Markus Tiedemann hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben mit dem Titel: «Post-Aufklärungs-Gesellschaft – Was wir verlieren und was uns bevorsteht». Der Autor vertritt «die Überzeugung, dass wir Augenzeugen eines mentalitätsgeschichtlichen und kulturhistorischen Paradigmenwechsels sind. Wir erleben das Ende der zweiten Aufklärungsepoche und den Beginn der Post-Aufklärungs-Gesellschaft.»
Markus Tiedemann beschreibt diese Entwicklung eindrücklich, und hofft dabei, dass er sich irrt:
«Es geht darum zu zeigen, dass wir nicht die Krise einzelner gesellschaftlicher Instanzen beobachten, sondern den Untergang einer Lebensform. Selbstverständlich wäre nichts weniger aufgeklärt, als die eigenen Überzeugungen als zweifelsfreie Erkenntnisse darzustellen. Die vorliegende Abhandlung ist ein Essay in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes. Es handelt sich um eine Streitschrift, getragen von der schwindenden Hoffnung, dass ich mich irre.»
Der Verlag schreibt zum Buch von Markus Tiedemann:
«Aufklärung ist das Beste, was die Menschheit je hervorgebracht hat. Ihre Essenz besteht in dem Streben nach Objektivität und intersubjektiver Rechtfertigung. Ein elitäres Minderheitenprojekt, dem große Teile der Menschheit enorme Errungenschaften zu verdanken haben. Dennoch ist derzeit das Ende der zweiten Aufklärungsepoche zu beobachten. Ursächlich sind die immensen Belastungen einer emanzipierten Lebensform ebenso wie aktuelle politische und soziologische Stressfaktoren. Zu diesen gehören ein kapitalistisch verkürztes Freiheitsverständnis ebenso wie Migrationsbewegungen, eine mangelnde Verteidigung des ethischen Universalismus oder ein Antirassismus ohne Bewusstsein für negative Dialektik. Die Erosion bewirkt eine Rückkehr zu den autoritären Standardmodellen der Menschheit gepaart mit den technischen und medialen Potentialen der Moderne. Zeit für einen Blick zurück in Dankbarkeit und eine kritische Betrachtung dessen, was uns erwartet.»
Markus Tiedemann bietet also einen düsteren Ausblick auf die Zukunft von Aufklärung und Demokratie. Und er schildert zugleich sehr eindrücklich, was wir verlieren würden, wenn wir in eine Post-Aufklärungs-Gesellschaft abgleiten. Er benennt auch präzis, woher die Gefahren lauern. Das ist hilfreich für jene von uns, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben.
Zitat aus dem Buch von Markus Tiedemann:
«Zwei Säulen tragen freiheitliche Gesellschaften. Eine von Gewaltenteilung geprägte Verfassung und eine aktive, kritische und selbstkritische Bürgerschaft. Die Epochen der Aufklärung haben grandiose Verfassungen hervorgebracht. Gleichwohl bieten alle Angriffsflächen für Machtmissbrauch. Das galt für die Kombination der Paragrafen 25, 48 und 53 der Weimarer Verfassung und das gilt für das Zuschneiden von Wahlbezirken in den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch selbst wenn Konstruktionsfehler vermieden oder behoben werden, Verfassungen allein vermögen den Fortbestand einer freien, rationalen und mündigen Gesellschaft nicht zu garantieren.
Ein Grund hierfür ist das Autoritätsdefizit, das allen säkularen Staatsformen zukommt. Die politische Ordnung vermag sich nicht auf ein transzendentes ‘höheres Recht’ zu berufen, sondern bezieht ihre Legitimation aus jener bürgerlichen Freiheit, die sie selbst zu etablieren und zu erhalten versucht. Nach Hannah Arendt bemühen sich Republiken, dieses Defizit mit einem fast sakralen Gründungsmythos zu kompensieren. Dies gilt für das antike Rom, ebenso wie für die Vereinigten Staaten von Amerika.
Allerdings vermögen auch diese emotionalen Aufladungen Respekt und Wertschätzung nicht zu garantieren. Am 06. 01. 2021 stürmte ein gewaltbereiter Mob das Kapitol der Vereinigten Staaten in Washington D.C., um die förmliche Bestätigung der Präsidentschaftswahlen von 2020 zu verhindern…
In letzter Instanz beruht alle Hoffnung auf Bildung. Doch gerade hier offenbart sich die erschreckende Fragilität des Aufklärungsprojektes. Gerade weil das Handwerk der Freiheit immer wieder neu erlernt werden muss, genügt es, eine einzige Generation zu vernachlässigen, zu verunsichern oder zu manipulieren. Gleichzeitig ist die Erziehung zur Mündigkeit ungleich schwerer und aufwendiger als Indoktrination und Manipulation. Der Mensch ist vernunftbegabt, nicht vernunftaffin. Selbst wenn sich Vernunft und autonome Urteilskraft entfaltet haben und eine verlässliche Immunität gegen Vorurteile, Fanatismus und Dogmatismus ermöglichen, können ihre Träger nur gar zu leicht zum Schweigen gebracht werden.» (Seite 83/84)
Quelle:
Markus Tiedemann: Post-Aufklärungs-Gesellschaft. Was wir verlieren und was uns bevorsteht. Brill/Mentis Verlag, 2023.
Ausserdem:
Jürgen Wiebicke hat für das «Philosophische Radio» ein Gespräch mit Markus Tiedemann zum Thema «Post-Aufklärungs-Gesellschaft» geführt. Hier zum Nachhören:
Markus Tiedemann: Postaufklärungsgesellschaft
WDR 5 Das philosophische Radio 22.01.2024 56:22 Min. Verfügbar bis 21.01.2025 auf WDR 5:
Und hier als Download auch längerfristig:
Der Philosoph Markus Tiedemann (*1970) bildet angehende Lehrkräfte aus und befasst sich unter anderem mit Cancel-Culture, Sprachpolitik, Migration und Rechtsextremismus. Er lehrt an der Technischen Universität Dresden die Fächer Philosophiedidaktik und Ethik. Im Jahr 2023 wurde er zum „Professor des Jahres“ gewählt.