Der SPD-Politiker Christian Ude war während 21 Jahren Oberbürgermeister von München. In einem Interview mit der «Zeit» äussert er sich kritisch zum Kurs seiner Partei.
Gefragt, in welcher Verfassung sich die SPD befinde, antwortet Christian Ude:
«Es ist grotesk, wie klein die SPD-Fraktion ist, aber gleichzeitig so gespalten, neuerdings auch die Landesgruppe im Bundestag. Ich halte es auch für falsch, jeder neuen Mode und Aktivistengruppe hinterherzulaufen, aber gleichzeitige eigene Anhängerschaft zu befremden oder zu verunsichern. Ich habe in immerhin 55 Mitgliedsjahren noch niemals und nirgendwo erkannt, dass das Gendern der Sprache, die Umbenennung von Mohrenstraßen oder das Verbieten von Indianerspielen ein Grundbedürfnis sozialdemokratischer Milieus wäre. Aber vielleicht bin ich einfach ein böser alter weißer Mann.»
Christian Ude weist hier auf einen neuralgischen Punkt der gegenwärtigen SPD hin. Zwar ist es nicht so, dass die Partei die sozialen Fragen und die Anliegen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern komplett vergessen hätte. In den Medien führen aber oft SPD-Leute das Wort, deren Engagement eher den von Christian Ude erwähnten, abgehobenen identitätspolitischen Themen gilt. Das in Deutschland geplante «Selbstbestimmungsgesetz» ist ein Paradebeispiel für abgehobene Identitätspolitik.
Die SPD und die Migrationsfrage
Christian Ude wird im Interview auch gefragt, wie die SPD in der Migrationsfrage auftreten sollte. Der langjährige SPD-Politiker antwortet:
«Differenziert! Sie muss zum Grundrecht auf Asyl stehen, zu humanitären Verpflichtungen und zwingendem Völkerrecht. Aber sie sollte auch nicht den Eindruck erwecken, dass sie für einen größeren deutschen Anteil am Weltflüchtlingsaufkommen kämpft, sogar jede illegale Zuwanderung als Bereicherung empfindet, keine Belastungsprobleme oder Kapazitätsgrenzen anerkennt und keine Abschiebung akzeptiert, weil doch der Grundsatz „Kein Mensch ist illegal“ gilt. Das geht alles an den Wählern, die wir schon verloren haben, völlig vorbei.»
Auch beim Thema Migration spielen identitätspolitische Theorien eine Rolle, wenn die SPD an ursprünglichen sozialdemokratischen Milieus vorbei agiert.
Quelle der Zitate:
Christian Ude : „Mir blutet das Herz, wenn ich das mit ansehen muss“ (Zeit online)
Anmerkungen:
Es ist zu befürchten, dass die SPD in Deutschland, aber auch die SPÖ in Österreich und die SPS in der Schweiz, sich zunehmend ins Abseits manövrieren, wenn sie auf Identitätspolitik setzen. Identitätspolitik zersetzt Demokratie und Wissenschaft. Sie zeigt darüber hinaus an vielen Stellen pseudoreligiöse Züge. Und wenn die linken Parteien sich zunehmend identitätspolitisch profilieren, spielt das nur den Rechten in die Hände. Das ist fatal.
Siehe auch:
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
Selbstbestimmungsgesetz: Zählt Biologie noch?