Demokratien sind auf eine Debattenkultur angewiesen, die es den Individuen ermöglicht, nicht nur Informationen zu bekommen und auszutauschen, sondern auch ihre Meinungen durch die Konfrontation mit anderen Meinungen zu hinterfragen und zu revidieren. Eine solche Debattenkultur ist die Voraussetzung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger die innen- und aussenpolitischen Probleme verstehen, ausreichend differenzieren können und auch andere soziale Gruppen im Blick haben als ihre eigene.
Politische Kompetenz braucht eine freie Debattenkultur. Das war ein zentrales Thema der Aufkärungsphilosophie. Bereits Immanuel Kant (1724 – 1804) wies in seinem berühmten Aufsatz «Was ist Aufklärung?» darauf hin, dass die menschliche Vernunft nicht monologisch funktioniert, sondern auf den freien Austausch mit anderen angewiesen ist. Vernunft ist eng mit sozialen Funktionen verbunden, entwickelt sich im sozialen Raum und bedarf dazu kontroverser Debatten. Der einzelne Mensch denkt unabhängig vom Grad seiner Intelligenz eher faul und voreingenommen. Er sucht gern nach Gründen, die seine Meinungen bestätigen, und weniger gern nach dem, was ihnen widersprechen könnte. Auch hochintelligente Menschen neigen zu Denkfehlern, weil auch Genies ihre Vorurteile nicht kritischer hinterfragen als andere, sondern eher besonders geschickt nach Bestätigungen suchen für das, was sie ohnehin schon denken und glauben. Es sind Rechtfertigungen im Nachhinein, die mehr dazu dienen, unseren Ruf zu wahren, damit andere uns als rational, kompetent, pflichtbewusst und vertrauenswürdig halten.
Diese Blindheit erstreckt sich hauptsächlich auf unsere eigenen Vorurteile, während wir bei anderen eher in der Lage sind, zwischen guten und schlechten Gründen, zwischen verlässlichen und fragwürdigen Informationen zu unterscheiden.
Freie Debattenkultur korrigiert Fehleinschätzungen
Fehlt die Möglichkeit einer freien, auch kontroversen Debattenkultur (oder die eigene Neigung dazu), dann tendieren einsame Genies nicht weniger als ihre beschränkteren Mitmenschen zum Festhalten an Fehleinschätzungen. Eine freie Debattenkultur dagegen verbessert bei Nicht-Experten ebenso wie bei Experten die gemeinsame Kompetenz.
Das wussten schon John Stuart Mill (1806 – 1873), der berühmte Liberale des 19. Jahrhunderts, und seine Koautorin Harriet Taylor Mill (1807 – 1858). Sie wiesen in ihrer Verteidigung der Redefreiheit darauf hin, dass wir nur in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden die blinden Flecken in unseren eigenen, ungeprüften Vorstellungen erkennen und überwinden können. In ihrem Buch «Über Freiheit» (On Liberty) vertraten sie die Auffassung, dass wir die Konfrontation mit den Meinungen von Menschen, die andere Dinge für wichtig halten, dieselben Vorgänge anders beschreiben und aus dieser Perspektive unsere Meinungen und Wertvorstellungen hinterfragen, nicht als eine Privatangelegenheit betrachten sollten, sondern als ein zu schützendes öffentliches Gut:
«[Das] eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Gemeinschaft aller ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von dieser Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen.»
(Mill, John Stuart, Über Freiheit, Hamburg, Meiner Verlag 2009, S. 25)
Mill & Mill empfehlen also, die Äusserungen Andersdenkender als Gewinn für uns selbst und die Allgemeinheit zu betrachten. Dem steht allerdings die starke menschliche Neigung entgegen, sich über Widerspruch und Wertdifferenzen zu ärgern. Diese Neigung wird verstärkt, wenn sie in moralisch aufgeladenen politischen Debatten mit emotionalem Überengagement einhergeht. Dann werden Meinungen in dem Masse, in dem sie den unsrigen widersprechen, gern als schlecht, falsch und gefährlich aufgefasst. Zwar gibt es menschenfeindliche, rassistische oder sexistische Äusserungen. Wer jedoch vorschnell widersprechende Aussagen mit derartigen Etiketten diffamiert, bringt Menschen wirksam zum Schweigen und zerstört die Debattenkultur.
Identitätspolitik und Moralismus
Moralismus wird dann zum politischen Kampfmittel und tritt nicht selten an die Stelle fehlender Argumente.
Das lässt sich immer dann besonders gut beobachten, wenn Identitätspolitik ins Spiel kommt. Dann fallen gerne auch Kampfbegriffe wie Transphobie und Islamophobie. Als transphob diffamiert wird zum Beispiel die „Harry Potter“-Autorin J.K. Rowling. Und wie es in identitätspolitischen Kreisen die Regel ist, wird kaum je auf den Tisch gelegt, was Rowling denn transphobes gesagt haben soll. Dann würde nämlich klar, wie lächerlich die Vorwürfe sind. Sieh dazu:
Transaktivismus: Diffamierung als Methode?
Islamophobie ist ein Kampfbegriff von Islamisten, die sich mit diesem Kniff vor Kritik abschirmen. Identitätspolitisch aufgeladene Linke verwenden diese Keule ebenfalls und treffen sich darin mit Islamisten.
Mill & Mill für radikal offene Debattenkultur
Mill & Mill plädieren dafür, auch Meinungen, die uns zutiefst anstössig und unmoralisch erscheinen, zu bekennen und öffentlich zu diskutieren. Sie führen eine Reihe von Gründen für eine radikal offene Debattenkultur an. Ein zentrales Argument sehen sie darin, dass niemand unfehlbar ist. Deshalb könne sich auch niemand das Recht herausnehmen, eine «Frage für die ganze Menschheit zu entscheiden und jede andere Person von der Möglichkeit des Urteils auszuschliessen.» («Über Freiheit», S. 26).
Mill & Mill plädieren allerdings nicht für eine grenzenlose Redefreiheit. Die Meinungsfreiheit lässt sich nicht geltend machen für Aufforderungen zu Gewalttaten. Diese Einschränkung gilt auch für Reden, in denen nicht wörtlich zur Gewalt aufgefordert wird, von denen aber in der konkreten Situation eine unmittelbare Gewalt für andere ausgeht. Für Mill & Mill ist der Kontext mitentscheidend und sie erklären das am Beispiel einer politischen Kritik am Kapitalismus:
«Die Ansicht zum Beispiel, dass Kornhändler Ausbeuter der Armen seien oder dass Eigentum Diebstahl sei, sollte ungestraft durch die Presse verbreitet werden dürfen; aber es muss gerechterweise bestraft werden, wenn sie mündlich einem erregten Volkshaufen vorgetragen wird, der sich vor dem Haus eines Kornhändlers zusammenrottet [….] Soweit muss die individuelle Freiheit begrenzt werden, dass niemand anderen Schaden zufügen darf.»
(«Über Freiheit», S. 79)
Hier kann ergänzt werden, dass diese Problematik sich seit dem 19. Jahrhundert durch den Siegeszug der sozialen Medien verschärft hat. Die «erregten Volkshaufen» können sich über Facebook, Tiktok & Co blitzschnell, global und fern jeder Debattenkultur zusammenrotten, was ganz neue Bedrohungslagen schaffen kann. Ein tragisches Beispiel ist die grossflächige Aufstachelung eines Mobs gegen die Minderheit der Rohingya in Myanmar. Da in diesem Land praktisch jede Person Facebook nutzt, verbreitete sich der tödliche Hass rasend schnell und Facebook hat es verpasst, rechtzeitig Gegenmassnahmen zu ergreifen.
Wie umgehen mit Falschmeldungen?
Falschmeldungen sind eine Heraufforderung für eine freie Debattenkultur. Sie waren es damals im 19. Jahrhundert, als Mill & Mill ihre Texte verfassten. Und sie sind es heute noch viel mehr. Über soziale Medien verbreiten sich Falschmeldungen und Propagandalügen sehr viel schneller als korrekte Meldungen.
Für Mill & Mill gibt es keinen guten Grund, eine Rede allein deshalb zu unterbinden, weil man die Äusserung für falsch hält. Die beste Reaktion auf Falschmeldungen bestehe darin, sie zu korrigieren. Auch das ist allerdings heute schwieriger geworden: Die Richtigstellungen von Falschmeldungen sind im Netz sehr viel langsamer unterwegs und erreichen nicht so viele Leute wie die ursprünglichen Fake News.
Wer sich auf kontroverse Debattenkultur einlässt, entwickelt sich
Mit Menschen zu diskutieren, die prägnant andere Ansichten vertreten, mag mitunter emotional und intellektuell anstrengend sein. Jedenfalls ist die Herausforderung grösser, als wenn man sich im Kreise Gleichgesinnter über anders Denkende echauffiert. So ist die Versuchung gross, kontroversen Debatten eher aus dem Weg zu gehen und sich lieber im wohligen «Safe Space» der eigenen Bubble zu bewegen.
Derartige Ausweichmanöver werden oft damit gerechtfertigt, dass Diskussionen mit Menschen, die ganz andere Meinungen vertreten, sowieso «nichts bringen», weil man sich mit ihnen ohnehin nicht einigen könne.
Dem liegt das Missverständnis zugrunde, dass politische Diskussionen nur dann einen Sinn ergeben, wenn eine realistische Chance auf Einigung besteht. Eine freie und gute Debattenkultur bietet aber auch dann Erkenntnis und Sinn, wenn sich die Kontrahenten nicht finden und die Positionen unvereinbar bleiben.
☛ Die gegnerische Position besser kennenzulernen ist an sich schon ein Erkenntnisgewinn, auch wenn sie als fragwürdig, falsch, illusorisch, irregeleitet oder was auch immer angesehen wird. Und oft findet sich auch in sehr desolaten Positionen ein Körnchen Wahrheit, das sich zu suchen und zu entdecken lohnt.
☛ Die Auseinandersetzung mit den persönlichen Erfahrungen des politischen Gegners kann dazu beitragen, dass wir den persönlichen Respekt für ihn oder sie entwickeln, der für eine demokratische Debattenkultur unverzichtbar ist.
☛ Die Konfrontation mit anderen Meinungen setzt uns einem Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck aus, der uns zu einer kritischen Prüfung der eigenen Positionen zwingt. Das bietet uns die Chance, Schwachstellen der eigenen Argumentation zu erkennen und wo nötig die Position zu modifizieren.
Was passiert, wenn kontroverse Debattenkultur fehlt?
Eine freie, kontroverse Debattenkultur kann aus verschiedenen Gründen fehlen. Zum Beispiel unter den Bedingungen einer Diktatur, im Kontext eines extremen sozialen Konformismus oder wenn sich die Menschen nur noch in sogenannten Meinungsblasen bewegen und sich ins Stammesdenken zurückziehen (siehe dazu: Tribalismus, digitaler: Problematik des Stammesdenken). Eine solche Entwicklung kann die moralische und politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger schwächen. Sie geben in der Kommunikation nur noch Klischees und Sprachhülsen weiter und versuchen gar nicht mehr, sich dabei etwas Präziseres zu denken. Sie schützen sich durch die Verwendung von Stereotypen, Floskeln, standardisierten Ausdrücken und Redewendungen vor der eigenen, konkreten Auseinandersetzung mit der Realität.
Unter solchen Bedingungen werden die politischen Positionen der Menschen schwammig und nebulös. Die eigenen und die fremden Positionen werden ihnen unklar. So lassen sich politische Prozesse in Demokratien aber nicht konstruktiv gestalten. Es wäre fast so etwas wie der Tod der Demokratie.
Darum sollten wir der freien Debattenkultur Sorge tragen.
Quelle:
«Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen», von Maria-Sibylla Lotter. In: Maria-Sibylla Lotter (Hrsg.): «Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft», Verlag Karl Alber 2023.
Ergänzungen zu den Themen Debattenkultur und Meinungsfreiheit:
☛ Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
☛ Demokratie braucht diskursive Gesprächskultur.
☛ „Redefreiheit – Prinzipien für eine vernetzte Welt,“ von Timothy Garton Ash (Buchtipp und Buchbesprechung).
☛ Demokratische Fairness verteidigen.
☛ Zum Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft.