Der Philosoph Hermann Lübbe hat 1987 ein kleines Bändchen veröffentlicht mit dem Titel «Politischer Moralismus – Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft».
Der Verlag preist das Werk mit einem Text an, der überraschend aktuell erscheint:
«Das Vokabular der miteinander Streitenden hat seit einiger Zeit denunziatorischen Charakter angenommen. Politische und intellektuelle Auseinandersetzungen enden immer häufiger in moralischer Diffamierung des Andersdenkenden. Der brillante Essay des Züricher Philosophen fragt nach den Ursachen solcher Entrationalisierung öffentlicher Erörterungen.»
Dieser Text stammt aus einer Zeit, in der es noch keine «sozialen Medien» gab. Und trotzdem scheint die moralische Diffamierung von Andersdenkenden als Ersatz für die Auseinandersetzung mit Argumenten schon stark verbreitet gewesen zu sein. Die (a)Sozialen Medien verstärken diese destruktiven Verhaltensweisen in der öffentlichen Diskussion. Und die inzwischen vor allem an Universitäten, in den Medien und im Bildungswesen breit etablierte Identitätspolitik setzt nachdrücklich auf Moralisierung.
Der Text Herrmann Lübbes hat daher nichts an Aktualität verloren. Am Schluss seines Bändchens gibt der Autor in vier Sätzen eine kurze Zusammenfassung des «Politischen Moralismus».
Was ist politischer Moralismus?
«Politischer Moralismus – das ist, erstens, die Selbstermächtigung zum Verstoss gegen die Regeln des gemeinen Rechts und des moralischen Common sense unter Berufung auf das höhere Recht der eigenen, nach ideologischen Massgaben moralisch besseren Sache.
Politischer Moralismus – das ist, zweitens, die rhetorische Praxis des Umschaltens vom Argument gegen Ansichten und Absichten des Gegners auf das Argument der Bezweiflung seiner moralischen Integrität; statt der Meinung des Gegners zu widersprechen, drückt man Empörung darüber aus, dass er es sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äussern.
Politischer Moralismus – das ist, drittens, die zivilisationskritische Praxis, die Folgelasten moderner Zivilisation, die in etlichen Lebensbereichen inzwischen rascher als ihre Lebensvorzüge wachsen, statt als entwicklungsbegrenzende Kosten als Beweis für die geschichtsphilosophische These zu interpretieren, dass sie moderne Zivilisation das Endstadium einer bis in die Moral unseres kulturellen Naturverhältnisses hineinreichenden Verfallsgeschichte sei.
Politischer Moralismus – das ist, viertens, das appellative Bemühen, die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände über die Verbesserung moralischer Binnenlagen, durch pädagogische und sonstige Stimulierung guter Gesinnung zu erwarten statt von einer Verbesserung rechtlicher und ordnungspolitischer Institutionen in der Absicht, uns zu bewegen, auch aus Eigeninteresse zu tun, was das Gemeinwohl erfordert.»
Quelle:
«Politischer Moralismus», von Hermann Lübbe, Siedler Verlag 1987.
Moralismus ist antipolitisch
Obwohl er oft in politischen Zusammenhängen in Erscheinung tritt, ist der Moralismus im Grunde antipolitisch.
Zu diesem Punkt schreibt Nils Heisterhagen in seinem Buch «Verantwortung»:
«Die Folgen des Moralismus sind antipolitisch. Inwiefern? Das moralistische Reden löst noch keine Probleme. Es sorgt eher dafür, dass man sich in einem grundsätzlich sehr schwierig zu entwirrenden Weltbilddiskurs verhakt. Bildlich gesprochen: Man kämpft um die Foucault’sche Diskursmacht, die aber niemals erreicht werden kann, weil sie unsichtbar, ungreifbar, diffus und dynamisch ist und im Foucault’schen Machtkampf daher nie jemand gewinnen kann. Macht ist nach dem französischen Philosophen Michel Foucault etwas, was nicht zu beziffern und nicht zu benennen ist. Es ist, aber es ist in Bewegung. Es ist wie das Luftmolekül im abgeschlossenen Raum. Die Diskursmacht bewegt sich in diesem Raum. Aber sie schnappen kann man sich nicht.»
Identitätspolitische Kämpfe sind auch mit noch so viel Moralismus nicht zu gewinnen.
Nils Heisterhagen führt dazu aus:
«Man kann als Feministin noch so oft das Patriarchat anklagen oder als Rechtspopulist auf die ‘links-grün Versifften’ schimpfen, noch so oft #Metoo- oder #Metwo-Bewegungen inszenieren, vollends gewinnen wird man nie. Weil sich die Foucault’sche Macht nämlich nicht in Sieg oder Niederlage definieren lässt. Macht kann man in Foucaults Sinne nicht besitzen. Weder Kämpfe über Identität noch Kämpfe über subjektive Empfindungen lassen sich endgültig entscheiden. Sie sind, um eine Analogie zu finden, Windmühlenkämpfe. Sie enden stets in einem neuen Anlauf……Diese Kämpfe ‘bewegen’ schon etwas. Allerdings sind sie nicht zu gewinnen. Sie werden aber umso aufreibender und zerstörerischer, wenn ihre Kämpfer immer und immer wieder anrennen und doch immer und immer wieder merken, dass sich nur marginal etwas bewegt und der Kampf in einer Endlosschleife in die Wiederholung führt.
Natürlich kann man in diesem Kampf zu immer mehr Radikalität neigen, aber eben nur dann, wenn man sich erfolgreich einbildet, dieser Kampf sei zu gewinnen. Leider bilden sich das jedoch heute die meisten ‘Kämpfer’ ein.»
Vielleicht geht es den identitätspolitischen Kämpfern mit ihrem Moralismus aber letztlich gar nicht ums Gewinnen. Wer sich anderen in einer moralisierenden Shitstorm-Kampagne anschliesst und Verwünschungen ausstösst, signalisiert damit vielleicht eher der eigenen Bezugsgruppe seine Tugendhaftigkeit und versucht sie mit besonderer Klugheit und Loyalität zu beeindrucken. Diese Form des politischen Moralismus ist eher ein Auswuchs von Stammesdenken (Tribalismus) und dient dem virtue signalling (= die moralische Korrektheit der eigenen Position soll damit demonstriert werden).
Was bringt es, immer wieder über Identitäten zu reden?
Nils Heisterhagen fragt die identitätspolitischen Moralismus-Kämpfer:
«Was bringt es, immer und immer wieder über Identitäten zu reden und politisch zu kämpfen? Was bringt es, andere für seine Haltungen und Werte immer und immer wieder zu emotionalisieren? Was bringt es, sich immer und immer wieder für das eigene Weltbild einzusetzen und Personen mit einem anderen Weltbild zu attackieren?»
Und Heisterhagen hat dazu eine eigene Antwort:
«Wie wäre es stattdessen, wenn man sich politischen Sachfragen in rationaler Manier annimmt und hier nach Lösungen sucht…»
Tatsächlich verheddert sich die moralisierende Identitätspolitik weitgehend in Schaukämpfen und symbolischen Aktionen. Für marginalisierte Gruppen, für die sich identitätspolitische Aktivisten einzusetzen behaupten, führt das nur selten zu realen Erfolgen.
Sachpolitik statt Identitätspolitik wäre deshalb eine sinnvolle Empfehlung. Aber dann müsste man im konkreten Alltag Kompromisse finden und ohne die überhöhte Moralisierung könnte man sich nicht im Gefühl baden, für eine gerechte Sache zu kämpfen und fraglos auf der Seite der Guten und Reinen zu stehen.
Quelle:
«Verantwortung – Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels», von Niels Heisterhagen, Dietz Verlag 2020.
Anmerkungen:
☛ Politischer Moralismus scheint seit einigen Jahren sehr an Fahrt aufzunehmen, vor allem im Bereich der Identitätspolitik. Aus dieser Szene gibt es immer wieder «Shitstorms» jeder Art gegen Andersdenkende. Siehe dazu:
Transaktivismus: Diffamierung als Methode?
☛ Hier gibts ein interessantes Interview mit dem Philosophen Philipp Hübl zum Thema Moralismus (7.20 Minuten):
☛ Wer ist Hermann Lübbe?
Der deutsche Philosoph Hermann Lübbe (*1926) war von 1971 bis 1991 ordentlicher Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich.
☛ Wer ist Niels Heisterhagen?
Der deutsche Publizist und Philosoph Niels Heisterhagen (*1988) fordert eine sozialdemokratische Verantwortungslinke, die den Menschen Kennedys Satz wieder zumutet: «Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.»