Wer trägt eigentlich die Verantwortung für die Demokratie? Gewählte Politikerinnen und Politiker? Parteien? Die staatliche Verwaltung? Bürgerinnen und Bürger? Medien?
Demokratie ist nicht selbstverständlich und von vielen Voraussetzungen abhängig. Der Staat wird heute von vielen Bürgerinnen und Bürgern als eine Art Dienstleistungsfirma angesehen. Du zahlst deine Steuern und erwartest eine Gegenleistung. So funktioniert Demokratie aber nicht. Sie braucht aktive Beteiligung. Ziehen sich immer mehr Menschen in ihr Privatleben zurück, verliert die Demokratie an Kraft. Liberale Demokratien zwingen aber im Gegensatz zu vielen Diktaturen niemanden zu politischem Engagement. Sie sind angewiesen auf freiwilliges Engagement.
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Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger?
Es ist ein grosses Privileg in liberalen Demokratien, dass niemand gezwungen wird, sich politisch zu betätigen. Und dass es dadurch grundsätzlich möglich ist, sich ein Leben lang ausschliesslich um die eigenen geschäftlichen und privaten Belange zu kümmern. Das steht im Gegensatz zu totalitären Staaten wie Nordkorea. Dort dominiert der Staat auch in den wirtschaftlichen und privaten Belangen und fordert politische Beteiligung ein.
Andererseits liegt klar auf der Hand, dass Demokratien ohne die Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürgern nicht existieren können. Zieht sich ein zu grosser Teil von ihnen ins private Gärtchen zurück, verlieren demokratische Gesellschaften den Boden, auf dem sie stehen.
Der Philosoph Roland Kipke schreibt dazu in seinem Buch «Jeder zählt – Was Demokratie ist und sein soll»:
„Die Gleichgültigkeit ist ein Nervengift für die Demokratie. Autoritäre Präsidenten, Möchtegern-Diktatoren, fanatische Bewegungen – sie alle können aufgehalten werden bei ihrem Versuch, eine Demokratie auszuhöhlen und zum Einsturz zu bringen. Dann nämlich, wenn die Bürger Verantwortung übernehmen für ihre Ordnung der gleichen Freiheit, für ihre Demokratie, und sich den Autoritären entgegenstellen. Wenn aber Gleichgültigkeit herrscht, haben die Feinde der Freiheit schon gewonnen. An der Gleichgültigkeit geht die Demokratie zugrunde.“
Der deutsch-britische Soziologe, Politiker und Publizist Ralf Dahrendorf (1929 – 2009) betrachtete die Apathie breiter Bevölkerungskreise als Grundvoraussetzung für einen sich ausbreitenden schleichenden Autoritarismus.
Er unterschied Autoritarismus vom Totalitarismus. Während totalitäre Regime die Menschen ständig kontrollieren und mobilisieren zum Zweck der Stärkung eines Gewaltregimes, verlassen sich autoritäre Regime auf die Apathie und das Schweigen der Untertanen, die ihren eigenen, ‚privaten’ Interessen nachgehen, während eine kleine Gruppe – eine Nomenklatura, eine Bürokratie – die Zügel in der Hand hält und das öffentliche Interesse in eines zur eigenen Machterhaltung verwandelt hat.
Die überwiegende Zahl der Bürgerinnen und Bürger mischt sich nicht in die öffentlichen Angelegenheiten ein. Tun einige es trotzdem, werden sie vom Regime zum Schweigen gebracht.
Davon könne in den westlichen Demokratien zu mindestens in dieser Schärfe keine Rede sein, stellte Dahrendorf in einem Vortrag im Dezember 2006 fest. Es gebe allerdings Tendenzen, die in eine ähnliche Richtung weisen:
„Das zunehmende Desinteresse vieler Bürger lässt sich nicht nur an der Wahlbeteiligung ablesen. Vielfach ist die Debatte über öffentliche Dinge erlahmt. Politik erreicht den Bürger und Wähler nicht mehr. Die meisten haben anderes im Sinn. Die Parteien verlieren Mitglieder, die Zeitungen verlieren Leser. Die Leute schütteln den Kopf über die Politik, aber betrachten das nicht als Aufforderung zum Tun, sondern als Grund zur Abkehr….»
Zur Verantwortung von Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie gehört auch ein Mindestmass an Informiertheit aus seriösen Quellen. Wer in einer Demokratie Mitreden und Mitentscheiden will, braucht ein korrektes Wissen über die anstehenden politischen Fragen.
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Verantwortung gewählter Politikerinnen und Politiker
Zur Verantwortung gewählter Politikerinnen und Politiker gehört selbstverständlich, dass sie sich an Gesetze und an die Gewaltenteilung halten. Es gibt aber auch eine Reihe von ungeschriebenen Normen und Regeln, die für das Funktionieren einer Demokratie wichtig sind. Alle erfolgreichen Demokratien stützen sich nämlich auf solche informellen Regeln, die zwar nicht in der Verfassung festgelegt, aber weithin bekannt sind und beachtet werden. Sie dienen als `weiche’ Leitplanken der Demokratie, indem sie verhindern, dass die alltägliche politische Auseinandersetzung in einen Konflikt ausartet, in dem die Beteiligten keine Rücksicht auf Verluste nehmen.
Die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt beschreiben in ihrem Buch «Wie Demokratien sterben» zwei Normen, die für den Schutz einer Demokratie zentral sind: gegenseitige Achtung und institutionelle Zurückhaltung.
2.1. Gegenseitige Achtung
Politische Konkurrenten sind als legitime Mitbewerber um die Macht zu betrachten, solange sie nach den Regeln der Verfassung spielen. Auch wenn man mit ihnen nicht übereinstimmt oder ihnen gegenüber gar tiefe Abneigung empfindet, akzeptiert man doch ihr Daseinsrecht. Man mag ihre Ideen für dumm oder verschroben halten, aber man sieht in ihnen weder eine existenzielle Bedrohung, noch betrachtet man sie als Verräter, Staatsfeinde oder vergleichbar inakzeptable Menschen. Der politische Gegner ist ein Gegner – und nicht ein Feind.
Levitsky & Ziblatt schreiben:
«Ist die Norm der gegenseitigen Achtung schwach ausgeprägt, lässt sich die Demokratie nur schwer bewahren. Wer Rivalen als gefährliche Bedrohung betrachtet, erwartet, dass er im Fall ihres Wahlsiegs einiges zu befürchten hat. Wenn man so denkt, liegt der Schluss nah, jedes Mittel sei recht, um den politischen Gegner zu stoppen. Genau darin liegt die Rechtfertigung für autoritäre Massnahmen. Politiker, die als Kriminelle oder Staatsfeinde gebrandmarkt werden, können ins Gefängnis geworfen, und Regierungen, die angeblich eine Gefahr für die Nation darstellen, können gestürzt werden.»
Den ausserordentlich wichtigen Unterschied zwischen Gegnerschaft und Feindschaft in der Politik hat die Philosophin Marie-Luisa Frick auf den Punkt gebracht:
„Gegner tragen ihre politischen Konflikte innerhalb eines Rahmens geteilter (demokratischer) Prinzipien aus: Sie betrachten einander als legitime Kontrahenten mit grundsätzlich legitimen Auffassungsunterschieden. Mouffe hat dafür die Bezeichnung agonistische Konflikte (nach griechisch agon, der Wettkampf) gewählt, die sie von antagonistischen unterscheidet. Erstere nehmen eine Form an, welche die politische Gemeinschaft nicht zerstört, da die Gegner sich durch ein gemeinsames Band, wie insbesondere das Bekenntnis zum demokratischen Rahmen ihres Konfliktes, verbunden fühlen. Agonistische Konflikte werden geprägt von Dissens und Einmütigkeit zugleich, sie drücken, wie Mouffe es nennt, »konfliktualen Konsens« aus. Solange sich politische Konflikte in diesem Sinne ausdrücken dürfen, so lange sei es unwahrscheinlich, dass sie gewaltvoll ausgetragen werden……
Unter demokratischen Bedingungen werden politische Konflikte diskursiv, d. h. mit Argumenten und ohne Rückgriff auf physische Gewalt, sowie unter wechselseitiger Anerkennung der Legitimität der Kontrahenten ausgetragen. Feinde hingegen verbindet kein gemeinsames Band an (demokratischen) Wettstreitregeln. Deshalb können solche Konflikte im äussersten Fall auf einer existenziellen Ebene zu einem Entweder-oder, d. h. der ultimativen Vernichtung des Kontrahenten, führen. Die Entscheidung dafür, wann es sich um Gegnerschaft oder aber Feindschaft handelt, kann dabei selbst ein politischer Konflikt auf der Metaebene sein.“
2.2. Institutionelle Zurückhaltung
Damit ist gemeint, Handlungen zu unterlassen, die zwar den Buchstaben der Gesetze genügen, ihren Geist aber offensichtlich verletzen. Levitsky & Ziblatt schreiben:
«Wo die Norm der Zurückhaltung stark ist, nutzen Politiker, auch wenn es ihnen von Rechts wegen erlaubt wäre, ihre institutionellen Vorrechte nicht in vollem Umfang, weil dies das vorhandene System gefährden würde…..(Seite 125)
Man stelle sich die Demokratie als ein Spiel vor, das man endlos spielen will. Um weitere Runden spielen zu können, müssen die Spieler sich davor hüten, die gegnerische Mannschaft spielunfähig zu machen oder so weit ins Hintertreffen zu bringen, dass sie nicht mehr spielen will. Wenn die Gegner aufgeben, ist kein Spiel mehr möglich. Dies bedeutet, dass die Spieler, obwohl jeder von ihnen gewinnen möchte, sich bis zu einem gewissen Grad zurückhalten müssen. In einem Streetballspiel spielt man zwar aggressiv, bemüht sich aber, keine übertriebenen Fouls zu begehen – und nur dann ein Foul auszurufen, wenn es extrem war. Schliesslich ist man zusammengekommen, um Basketball zu spielen, nicht um zu raufen. Übertragen auf die Politik bedeutet dies, im Namen von Anstand und Fairplay schmutzige Tricks zu vermeiden und in der Regel nicht mit allzu harten Bandagen zu kämpfen…..(Seite 126)
Das Gegenteil von Zurückhaltung ist die schrankenlose Ausnutzung institutioneller Vorrechte. Der Rechtswissenschaftler Mark Tushner spricht von ‘harten Verfassungsbandagen’: Man hält sich zwar an die Regeln, reizt sie aber bis an die Grenzen aus und ‘kämpft verbissen’ darum, einmal Gewonnenes nicht wieder preisgeben zu müssen. Es ist eine Art Schlacht mit institutionellen Mitteln, die zum Ziel hat, den Gegner auszuschalten – ohne sich darum zu kümmern, ob man das demokratische Spiel dadurch beendet….(Seite 128/129)
Auch die Justiz kann gleichsam als harte Bandage benutzt werden….(129)
Der Zerfall der gegenseitigen Achtung voreinander kann Politiker veranlassen, ihre institutionelle Macht so weitgehend wie möglich zu nutzen. Wenn Parteien einander als Todfeinde betrachten, erhöhen sich die Einsätze im politischen Wettstreit beträchtlich. Niederlagen sind nicht mehr ein alltäglicher, akzeptierter Teil des politischen Prozesses, sondern werden als Katastrophen wahrgenommen. Sind die vermeintlichen Kosten einer Niederlage hoch genug, werden Politiker versucht sein, die Zurückhaltung aufzugeben und harte Bandagen anzulegen. Dies kann wiederum die gegenseitige Achtung noch weiter untergraben und die Überzeugung festigen, die jeweiligen Rivalen stellten eine gefährliche Bedrohung dar. Das Ergebnis ist eine Politik ohne Leitplanken, ein ‘Kreislauf immer gewagterer Verfassungsauslegungen’, wie der Politologe Eric Nelson sie beschreibt.»
(Seite 132)
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Verantwortung der Parteien
Den politischen Partien kommt eine grosse Verantwortung für die Stabilität von Demokratie und Rechtsstaat zu. Sie dürfen keine Kandidatinnen und Kandidaten für politische Ämter aufstellen, die autoritäre Tendenzen erkennen lassen. Die Republikaner in den USA haben in dieser Hinsicht versagt. Donald Trump hätte niemals Kandidat für das Präsidentenamt werden dürfen. Sein Mafiastil, sein übergrosses Ego und seine autoritären Züge waren und sind bekannt.
Nehmen extremistische Parteien an Wählerstärke zu, ist es entscheidend, dass demokratische Parteien aller Lager untereinander kooperieren, um demokratische Mehrheiten sicherzustellen. Levitsky & Ziblatt schreiben bezogen auf die Verteidigung der US-amerikanischen Demokratie:
«Trumps Gegner sollten eine breite prodemokratische Koalition bilden. Heutzutage sind Koalitionen häufig Zusammenschlüsse von gleichgesinnten Gruppen….
Koalitionen von Gleichgesinnten sind wichtig, aber sie genügen nicht, um die Demokratie zu verteidigen. Die wirkungsvollsten Koalitionen sind diejenigen, in denen sich Gruppen zusammenfinden, die in vielen Fragen unterschiedliche – und häufig gegensätzliche -Ansichten vertreten. Sie bestehen nicht aus Freunden, sondern aus Gegnern. Eine wirkungsvolle Koalition zur Verteidigung der amerikanischen Demokratie müsste also Progressive, Geschäftsleute und Unternehmer, religiöse (und insbesondere evangelikale) Führer und Republikaner aus Bundesstaaten mit republikanischer Mehrheit umfassen….
Koalitionen zu bilden, die über unsere natürlichen Verbündeten hinausgehen, ist schwierig. Man muss bereit sein, Anliegen, die einem wichtig sind, für den Augenblick beiseite zu legen.» (Seite 256/257)
Das gilt natürlich auch für politische Entwicklungen ausserhalb der USA. In einem Interview mit der «Republik» bringt Daniel Ziblatt diese Grundregel zur Verteidigung der Demokratie so auf den Punkt:
«Demokratische Gegenmächte können Autokraten verhindern, wenn sie über politische Differenzen, die sie untereinander haben, hinwegsehen und klare Prioritäten setzen.»
Um ihre Verantwortung wahrzunehmen, müssen demokratische Parteien also:
- Keine Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen, die autokratische Neigungen haben.
- Zur Abwehr extremistischer und antidemokratischer Parteien auch mit politischen Gegnern lagerübergreifend zusammenarbeiten.
4. Verantwortung der Medien als «Vierte Gewalt»
Medien haben eine grosse Verantwortung für die Demokratie, weil das politische Wissen der Bürgerinnen und Bürger von der Darstellung der Politik in den Massenmedien abhängt. Sie sollen so vollständig, sachlich und verständlich wie möglich über das öffentliche Geschehen berichten (Informationsfunktion).
Medien sollen darüber hinaus ein Forum sein für die freie und offene Diskussion der Fragen von öffentlichem Interesse und durch eigene Kommentierung an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung mitwirken (Meinungsbildungsfunktion).
Den Medien kommt zudem in einem System der Gewaltenteilung eine Kontrollfunktion zu gegenüber den drei Staatsgewalten Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Regierung) und Judikative (Gerichtsbarkeit). Sie kontrollieren die Politik, indem sie Missstände, zum Beispiel des Ämtererwerbs und der Amtsführung, aufdecken und kritisieren, sowie generell auf Missstände in Gesellschaft und Wirtschaft aufmerksam machen (Kontrollfunktion).
In Zeiten wachsender Desinformation kommt den Medien als weitere Verantwortung hinzu, Gefahren für die Demokratie zu erkennen und so gut wie möglich zwischen Fakten und Recherchiertem einerseits, und Falschinformationen und Lügen andererseits zu trennen (Wächterfunktion).
Im Gegenzug für diese wichtigen Aufgaben der Medien garantieren Demokratien in ihren Verfassungen die Pressefreiheit.
Wie weit die Medien ihre Verantwortung als «vierte Gewalt» wahrnehmen, ist eine umstrittene Frage. Und es lässt sich nicht weg reden, dass die traditionellen Qualitätsmedien in einer Krise stecken. Sogenannte «Soziale Medien» wie Facebook, Instagram, YouTube & Co. ziehen grosse Teile der Werbegelder ab, ohne selbst redaktionelle Leistungen zu vollbringen. Das entzieht den Qualitätsmedien in grossem Masse Ressourcen, die für Recherchen fehlen. Die finanziellen Einbrüche machen Medien auch anfällig für Einflussnahmen durch Inserenten und Public Relations.
Zudem stecken Medien im Internet in der «Aufmerksamkeitsfalle». Um Aufmerksamkeit wird im Internet hart gekämpft, weil sie Voraussetzung ist für die Erzielung von Einnahmen.
Und wie holt man sich Aufmerksamkeit? Durch Auffallen. Und wie fällt man auf?
Durch Emotionalisierung, Skandalisierung, Aufregung, Polarisierung, Kontrastierung. Provokationen, Tabubrüche.
Nun ist das Aussergewöhnliche und Aufregende jedoch nicht unbedingt auch das Relevante. Eine Medienlandschaft, in der Aufmerksamkeit die überlebenswichtige Währung ist, könnte deshalb dramatische Folgen für den Einzelnen und für die demokratische Gesellschaft haben, zum Beispiel im Hinblick auf die Meinungsbildung.
Darüber hinaus sind Massenmedien und populistische Politik eng miteinander verwoben. Beide sind abhängig von Aufmerksamkeit und profitieren voneinander.
Populisten befinden sich permanent im Wahlkampf und buhlen um die Masse. Dabei bedienen sie sich derselben Mittel wie eine auf Masse und Aufmerksamkeit fokussierte Publizistik. Populistische Parteien, Bewegungen und Politiker könnten nicht existieren ohne die Nutzung von Massenmedien und die Grundzüge populistischer Politik kommen den Massenmedien entgegen. Matthias Zehnder hat die fatalen Folgen einer Publizistik, die sich ganz dem Aufmerksamkeitsmarkt verschrieben hat, in seinem Buch die «Aufmerksamkeitsfalle» beschrieben. Eine Zusammenfassung dieses Buches gibt es hier:
Wie Medien via Aufmerksamkeitsfalle den Populismus fördern
Für Demokratinnen und Demokraten sind unabhängige Qualitätsmedien sehr wichtig. Wo immer es möglich ist, sollten wir Verantwortung übernehmen für die Stärkung der «Vierten Gewalt».
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Haltung allein genügt nicht
Worauf kommt es an, wenn Demokratie gestärkt und verteidigt werden soll? Nils Heisterhagen schreibt in seinem Buch «Verantwortung», dass Haltung allein nicht genügt, sondern Handlung und damit Realpolitik entscheidend ist. Damit spricht Heisterhagen einen wichtigen Punkt an. Vor allem in den identitätspolitisch eingefärbten Teilen der Linken wird Haltung zunehmend zum entscheidenden Kriterium. Man empört sich über irgendwelche vermeintlichen Inkorrektheiten, spricht oder schreit diese Empörung in die Echokammern der sozialen Medien hinein und bestätigt sich dort gegenseitig, dass man auf der richtigen Seite steht. Dieser politische Moralismus schadet der Demokratie, weil er toxische Polarisierung und Tribalismus(Stammesdenken) fördert.
Siehe dazu auch:
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Natürlich braucht es auch «Haltung». Problematisch ist aber die Fixierung auf Haltung und ihre Zelebrierung. Nils Heisterhagen schreibt:
«Diese Haltung hat oft eine trennende Konsequenz und keine vereinende. Sie ist eine Form der Identitätspolitik, die genauso wie die rechte Identitätspolitik eines Donald Trump oft suggeriert: Bist du auf meiner Seite oder bist du es nicht? Entscheide dich.
Diese Identitätspolitik ist aus meiner Sicht, egal ob sie von Liberalen oder von Rechten kommt, eines der zentralen Probleme der politischen Diskursführung dieser Tage.» (Seite 11)
Mit dieser Form der Identitätspolitik stehe sich die Linke selbst im Weg, schreibt Heisterhagen, und fährt fort:
«Es kommt immer darauf an zu verändern. Also nicht nur reden, sondern auch machen. Realität wird in erster Linie materiell geschaffen. Der Diskurs hingegen hat kein Eigenleben, keine Parallelexistenz, obwohl er heute vielfach so wirkt. Der Diskurs kann sich über das Reale weder ermächtigen noch ist er mächtiger. Wer glaubt, dass alles Diskurs ist, der irrt. Wer sich also zentral auf den Diskurs selbst fokussiert, verliert sich und verliert politisch.» (Seite 11)
Die identitätspolitischen Linke ist auf Diskurse fixiert, weil sie wesentlich auf postmodernen Theorien gründet. Diskurse gelten in diesen Theorien nicht als rein sprachliche Gebilde. Sie haben einen Einfluss auf die Realität – sie schaffen gar die Realität. Auch Wissen und Macht entstehen laut diesen Theorien aus den Diskursen. Die Linke befindet sich mit dieser Identitätspolitik auf dem Holzweg. Zur Stärkung und Verteidigung der Demokratie braucht es eine Linke, die an realen Verbesserungen für die Schwächeren der Gesellschaft arbeitet. Diese Reformlinke sei gerade gegenüber der identitätspolitischen Diskurslinken in der Minderheit, schreibt Nils Heisterhagen:
«Die Dominanz der Diskurslinken bestärkt und ermöglicht aber die identitätspolitische Wende». Die Folge dieser identitätspolitischen Wende seien ‘Poesie-Politik’ und ‘Stimmungspolitik’.
Und natürlich braucht es zur Stärkung und Verteidigung der Demokratie auch Liberale und Konservative, die sich in Stil und Inhalt deutlich von Rechtspopulisten und Rechtsextremen abgrenzen.
Es sind also viele Beteiligte, denen Verantwortung für die Demokratie zukommt. Und wenn Haltung allein nicht genügt, sondern Handlung gefragt ist, dann entstehen daraus Konsequenzen:
Die Stärkung und Verteidigung der Demokratie ist zwar auch, aber nicht nur, eine Angelegenheit für Individuen. Es braucht starke staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen und Institutionen, welche diese Verantwortung nachhaltig wahrnehmen – und es braucht Kooperation und Vernetzung zwischen den Freundinnen und Freunden der Demokratie.
Packen wir das an, solange es noch nicht zu spät ist.
Quellen zum Beitrag «Verantwortung für Demokratie»:
Roland Kipke, «Jeder zählt, Was Demokratie ist und was sie sein soll», J. B. Metzler Verlag 2018, S. 170.
Ralf Dahrendorf, «Anfechtungen liberaler Demokratien», Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Kleine Reihe 19, 2007.
Marie-Luisa Frick, «Zivilisiert streiten – Zur Ethik der politischen Gegnerschaft», Reclam Verlag 2017.
«Der zweite Versuch der Machtergreifung ist gefährlicher», Interview von Daniel Binswanger mit Daniel Ziblatt (Republik)
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, «Wie Demokratien sterben», DVA Verlag 2018.
Nils Heisterhagen, «Verantwortung – für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels», Dietz Verlag 2020.
«Medien als vierte Gewalt» (Lernhelfer.de)