Die Schriftstellerin Herta Müller warnt in einem Interview mit dem «Magazin» des Tages-Anzeigers vor einem «infantilen Verhältnis» zum Staat. Auf die Frage, was sie damit meint, sagt Herta Müller:
«Ich meine damit, dass man sich mit den Dingen der Gesellschaft, vor allem mit den politischen Dingen, nicht auseinandersetzt. Dass sie einen nicht interessieren und man das gute Gefühl vor sich hertragen kann, man sei unpolitisch. Aber man kann Demokratie auch verlernen oder als etwas Selbstverständliches nehmen – als etwas, das von sich aus zu existieren scheint.»
Die Literaturnobelpreisträgerin ist in Rumänien unter einer Diktatur aufgewachsen. Herta Müller weiss deshalb genau, wovon sie spricht, wenn sie sich zu Demokratie und Diktatur äussert. Gegenüber den Feinden der Demokratie nahm sie nie ein Blatt vor den Mund.
Sie sagt im Interview:
«Man müsste beides schaffen können: sowohl die Humanität aufrechterhalten, die moralischen Kriterien, als auch die Demokratie. Aber die vielen unpolitischen Menschen, die ein infantiles Verhältnis zum Staat haben, auch in Deutschland, der Schweiz und überall, tragen dazu bei, dass die Demokratie nicht mehr sicher ist, weil sie die Populisten stärken und ihren Sprüchen nachlaufen.»
Herta Müller zum «Schwanken der Demokratien»
Das «bodenlose Morden in der Ukraine» und das «Wanken der Demokratien» beschäftigen Herta Müller im Besonderen:
«Zuerst und am allermeisten beschäftigt mich dieses bodenlose Morden in der Ukraine. Das Nichtwissen, wann und wie dieser Krieg endet. Wie lange hält sich Putin noch an der Macht? Dass er jetzt um sein eigenes Überleben kämpft, weiss man, und das ist, glaube ich, das Gefährliche daran. Dass er selbst in Russland eine starke Gegnerschaft hat, und zwar nicht von Dissidenten, die demokratischer sind, sondern von Leuten, die noch schlimmer, noch faschistischer – wenn man faschistisch steigern kann – sind als er. Das Zweite, das mich beschäftigt, ist das Wanken der Demokratien – also der Vormarsch der Populisten überall. In Westeuropa, in Osteuropa. Dann China als grosse Diktatur, die Appetit hat auf Expansion. Das alles sind Dinge, die man sich vor Jahren so nicht hätte vorstellen können.»
Man rede die Dinge klein, erkenne vielleicht sogar etwas, wolle es aber nicht begreifen oder könne es nicht begreifen, weil man sich daran gewöhnt habe, es nicht zu begreifen.
«Das verstehe ich unter einem infantilen Verhältnis. Man will sich immer schützen, und auch wenn sich die Dinge verändern, ist es natürlich angenehmer, sich geschützt zu fühlen, als etwas infrage zu stellen. Das ist auch für eine Demokratie eine Gefahr.»
Der Interviewer Thomas David stellt Herta Müller die Frage, ob die Nachkriegsgenerationen, die in Westeuropa in dem Glauben aufgewachsen sind, ein Geburtsrecht auf Demokratie und Freiheit zu haben, eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine tragen.
Antwort:
«Putin hat nach und nach alles abgeschafft, was mit Demokratie auch nur im Entferntesten zu tun haben könnte. Die vielen Leute, die im Gefängnis sitzen, die Vergiftungen oder das Erschiessen von Anna Politkowskaja und Boris Nemzow. Sogar im Fall Nawalnys herrschte Gleichgültigkeit. All die katastrophalen Situationen in Russland wurden ausgeblendet, gar nicht zu reden von Georgien und der Krim. Wir haben gesehen, wie Putin an die Macht kam, wie er Grosny dem Erdboden gleichgemacht hat, wie er Aleppo dem Erdboden gleichgemacht hat. Was braucht es noch? Das alles sind ja bekannte Sachen, aber man wollte es sich nicht vorstellen, weil das nicht angenehm ist.»
Quelle:
https://www.tagesanzeiger.ch/man-kann-demokratie-auch-verlernen-663525528377 (Tages-Anzeiger, Abo)
Anmerkung:
Wir haben im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen mit den allermeisten Weltgegenden in einer politischen und wirtschaftlichen «Wellnesszone» gelebt. Das hat wohl dieses infantile Verhältnis zum Staat gefördert, von dem Herta Müller spricht. Stabile Verhältnisse sind für uns selbstverständlich geworden. Nun brauen sich in einer Reihe von Bereichen Krisen zusammen und es stellt sich die Frage, ob unsere Gesellschaften dem gewachsen sind.
Siehe dazu:
Schweiz verpennt «Zeitenwende» bezüglich Ukraine-Krieg
Viele Herausforderungen für westliche Demokratien – packen wir das?
Zum über viele Jahre ausgeblendeten «Putinismus»:
Putinismus – Ideologie und Verschwörungstheorien
Zu Herta Müller siehe auch:
Demokratie darf uns nicht müde machen, sagt Herta Müller
Herta Müller bringt Wladimir Putin auf den Punkt