Der Historiker Antony Beevor diagnostiziert im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» für westliche Gesellschaften ein «Diktatorensyndrom», das sowohl im Umgang mit Hitler als auch im Umgang mit Putin zum Zug kam:
«Unser Problem ist, dass wir das Diktatorensyndrom nicht begreifen. Die Briten und Franzosen verstanden es bereits in den 1930er-Jahren nicht, als die Bedrohung von Hitler ausging. Sie glaubten, niemand sei so dumm, den Horror des Ersten Weltkriegs zu wiederholen. Nach dem ersten Kalten Krieg nahmen wir an, dass ein Krieg in Europa ausgeschlossen sei. Wir haben unklugerweise ignoriert, was für Gräueltaten sich in Tschetschenien und in Syrien ereignet hatten. In unseren Demokratien wollen wir stets unsere Sicht, unsere Perspektive bestätigt sehen, und das ist ein Fehler. Deshalb haben so wenige Menschen den Angriff im Februar 2022 tatsächlich für möglich gehalten. Einmal mehr haben wir die Mentalität eines Diktators nicht verstanden, eine Mentalität, die sich übrigens von jener von Generälen unterscheidet.»
Generäle seien realistischer, was in Bezug auf die Logistik, die Moral und andere Dinge erreicht werden kann, sagt Antony Beevor weiter.
Antony Beevor zu Parallelen zwischen Hitler und Putin
Diktatoren würden dazu neigen, an den Triumph des Willens zu glauben, erklärt Antony Beevor. Es gebe gewisse Parallelen zwischen Hitler und Putin:
«Beide haben die enorme Bedeutung der Logistik übersehen. Hitler hat bei der Invasion der Sowjetunion 1941 und nochmals 1942 (unter anderem beim Vorstoss auf Stalingrad, die Red.) die Notwendigkeit eines effektiven Nachschubs völlig ausser Acht gelassen. Hitler und andere Diktatoren neigen dazu, auf eine Karte zu schauen und zu denken: Oh, das ist einfach. Diktatoren kennen sich aus in der Kartenkriegsführung, Generäle in der Kriegsführung.»
Nach weiteren Gemeinsamkeiten zwischen Hitler und Putin gefragt, erklärt Antony Beevor:
«Putin glaubte wie Hitler, und das geht auf Napoleon zurück, dass Moral, Entschlossenheit und Willenskraft allein entscheiden, selbst wenn man nicht über die notwendige Logistik zur Unterstützung seiner Armeen verfügt. Putin nahm zu Unrecht an, dass die Moral der russischen Truppen weitaus grösser sei, als sie es war, und dass seine Soldaten entschlossen seien, die Ukraine zurückzuerobern. Auch meinte er, der Ukraine fehle es an Moral, weshalb sie rasch zerfallen würde. Allerdings haben auch wir im Westen uns geirrt, was die Entschlossenheit der Ukrainer betrifft.»
Ein gemeinsames Problem von Diktaturen sieht Antony Beevor darin, dass die Generäle Putin nicht widersprochen haben, genauso wenig wie die Führung der Wehrmacht Adolf Hitler.
Quelle:
Interview zum Ukraine-Krieg: «Die Entscheidung wird im Kampf um die Krim fallen» (Tagesanzeiger, Abo)
Ergänzung:
Neben Gemeinsamkeiten gibt es natürlich auch Unterschiede zwischen Hitler und Putin. Letzterem fehlt insbesondere der extreme Judenhass, der für Hitler charakteristisch ist.
Zu Wladimir Putin siehe auch:
Putinismus – Ideologie und Verschwörungstheorien
Russland: Faschismus in modernem Gewand