In einer postfaktischen Welt spielt Wahrheit keine Rolle mehr und erfüllt nur noch eine rhetorische Funktion. Für die gegenwärtige Verbreitung des Postfaktualismus ist in einem bedeutenden Mass die Identitätspolitik verantwortlich.
Thomas Zoglauer schreibt zur Identitätspolitik:
«In der Identitätspolitik spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Nur den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe wird eine objektive Sicht auf die Wirklichkeit zugetraut. Die Standpunkttheorie vertritt die Auffassung, dass bestimmte soziale Standpunkte und ihre Sichtweisen, vorzugsweise diejenigen einer unterdrückten sozialen Minderheit, epistemisch privilegiert seien…..
Andere Sichtweisen werden als biased oder interessegeleitet zurückgewiesen oder es wird ihnen ein falsches Bewusstsein unterstellt. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt demzufolge nicht nur vom Inhalt der Aussage, sondern auch davon ab, wer etwas sagt. Wenn aber die Gruppenzugehörigkeit bestimmt, was wahr und was falsch ist, dann gibt es keine universelle, für alle verbindlichen Wahrheiten mehr, vielmehr wird Wahrheit zu einer Frage der Gruppenloyalität.»
Die Identitätspolitik legt eine solide Basis für Postfaktualismus
Im Postfaktualismus zählen Fakten nicht mehr, Tatsachen werden ignoriert oder empirische Evidenzen nicht zur Kenntnis genommen. Wenn Fakten nicht mehr zählen, lassen sich Behauptungen nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Der Postfaktualismus macht deshalb den kritischen Diskurs unmöglich. Er betreibt eine Strategie der Abschottung gegen die Wirklichkeit und untergräbt systematisch das Vertrauen in wissenschaftliche Experten, in die Medien und politische Institutionen.
Identitätspolitik und Postfaktualismus passen sehr gut zusammen. Der Postfaktualismus gibt Werten den Vorrang vor Tatsachen und ersetzt Objektivität durch Solidarität. Er betrachtet Tatsachen stets unter einer wertenden Perspektive und interpretiert sie entsprechend. Die Grenzlinie verläuft nicht zwischen Wahrheit und Falschheit, sondern zwischen dem Eigenen und dem Anderen, zwischen Freund und Feind. Diese Punkte sind auch in der Identitätspolitik anzutreffen.
Quelle:
«Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter», von Thomas Zoglauer, Springer Vieweg Verlag 2021 (Seiten 30 – 35)
Anmerkungen:
☛ Wahrheit wird in Identitätspolitik und Postfaktualismus zu einer Frage der Gruppenidentität. An diesem Punkt spielt Stammesdenken (Tribalismus) eine wichtige Rolle. Siehe dazu:
Tribalismus, digitaler: Problematik des Stammesdenken
☛ Identitätspolitik zeigt frappante Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien. Siehe dazu:
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
☛ Ergänzende Beiträge zum Thema:
Triumph der Meinung über Fakten, Wahrheit und Fachwissen – das kann nicht gut gehen!
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat