Identitätspolitik wurzelt in postmodernen Theorien, vor allem in den Werken von Michel Foucault und Judith Butler. Danach sind Wissen und Wahrheit sozial konstruiert und mittels politischer, ökonomischer und medialer Macht konstruiert. Argumente verlieren dadurch ihre Bedeutung. Dass Fakten unabhängig von sozialen Konstruktionen existieren können, wird fundamental in Frage gestellt. Das allein schon macht es schwer, in einer Demokratie gemeinsam Probleme zu benennen und Lösungen auszuhandeln. Denn dazu gehört der Austausch und die Würdigung von Argumenten, während identitätspolitisch jeder in seiner eigenen, relativistischen «Welt» hockt.
Die Unterminierung der Demokratie durch Identitätspolitik geht aber viel weiter und tiefer.
Identitätspolitik spaltet die Gesellschaft in eine böse, rassistische, sexistische, heteronormative Mehrheitsgesellschaft einerseits – und diverse gute, diskriminierte Minderheiten mit Opferstatus andererseits. Die Mehrheitsgesellschaft wird darüber hinaus unterteilt in jene Menschen, die einsichtig sind bezüglich ihres «white privilege» und dafür Busse tun, und jene, die uneinsichtig sind. Die Minderheiten werden unterteilt in verschiedene Opferkategorien, die je nach dem Mass ihrer Unterdrückung in der Opferhierarchie höher oder tiefer stehen.
Solche identitätspolitischen Spaltungen fördern ein problematisches «Stammesdenken» (Tribalismus) und sind dadurch schädlich für das gedeihliche Funktionieren einer Demokratie.
Standpunkttheorie versus Demokratie
In vielen Bereichen der Identitätspolitik ist eine problematische Standpunkttheorie zu beobachten. Thomas Zoglauer schreibt dazu in seinem Buch «Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter»:
«In der Identitätspolitik spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Nur den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe wird eine objektive Sicht auf die Wirklichkeit zugetraut. Die Standpunkttheorie vertritt die Auffassung, dass bestimmte soziale Standpunkte und ihre Sichtweisen, vorzugsweise diejenigen einer unterdrückten sozialen Minderheit, epistemisch privilegiert seien…..
Andere Sichtweisen werden als biased oder interessegeleitet zurückgewiesen oder es wird ihnen ein falsches Bewusstsein unterstellt. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt demzufolge nicht nur vom Inhalt der Aussage, sondern auch davon ab, wer etwas sagt. Wenn aber die Gruppenzugehörigkeit bestimmt, was wahr und was falsch ist, dann gibt es keine universelle, für alle verbindlichen Wahrheiten mehr, vielmehr wird Wahrheit zu einer Frage der Gruppenloyalität.»
Den gleichen Punkt spricht auch René Pfister an in seinem Buch «Ein falsches Wort»:
«Demokratie ist im Kern der Streit um das stärkste Argument und die Fähigkeit zum Kompromiss. Identitätspolitik ist die Verabsolutierung der eigenen Position. Wenn dann noch progressive Anliegen bürokratisiert werden, um sie dem demokratischen Diskurs zu entheben, ist das Ergebnis nicht eine bessere Politik, sondern die Aufspaltung der Gesellschaft in jene, die sich moralisch im Recht fühlen und dem Rest, der sich als rückständig verunglimpft sieht und sich Populisten wie Trump oder Björn Höcke zuwendet. Es entsteht eine Gesellschaft, die nicht miteinander spricht, sondern sich gegenseitig verachtet.»
Identitätspolitische Theorien aus Universitäten schwächen die Demokratie
Die postmodernen Theorien und ihre identitätspolitischen Ausläufer sind inzwischen stark an den Universitäten verankert – insbesondere in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Von dort verbreiten sie sich zum Beispiel in die Medienbranche und in den Bildungsbereich.
Der Politologe Yascha Mounk geht in seinem Buch «Der Zerfall der Demokratie» darauf ein, wie an Universitäten das Vertrauen in Demokratie und Aufklärung unterminiert wird. Er beschreibt dabei zentrale Aspekte der Identitätspolitik:
«Es würde selbstverständlich zu kurz greifen, zu behaupten, dass es dem amerikanischen Bildungssystem gänzlich an politischem Eifer mangele. Schliesslich beherbergt fast jeder Collegecampus nach wie vor einige Pädagogen, die sich intensiv ihrer ideologischen Mission widmen. Besonders in den Geisteswissenschaften und den stärker politisierten Sozialwissenschaften hoffen viele Professoren, bei ihren Studenten einen echten Gesinnungswandel herbeizuführen. Sie verfolgen jedoch keineswegs das Ziel, die wertvollsten Aspekte unseres politischen Systems zu bewahren, sondern zielen fast ausschliesslich darauf ab, den Studenten die Augen für die vielfältigen Ungerechtigkeiten und Heucheleien des Systems zu öffnen.
Dieser Grundreflex nimmt in unterschiedlichen Fachbereichen unterschiedliche Formen an. Im Literaturstudium werden die Werte der Aufklärung dekonstruiert, um sie als rassistisch, kolonialistisch oder heteronormativ zu entlarven. Im Geschichtsunterricht wird der politische Fortschritt als Lügengebilde dargestellt und stattdessen betont, in welchem Masse die liberale Demokratie schon immer enorme Ungerechtigkeit verursacht habe. Und in der Soziologie konzentriert man sich auf die schlimmsten Auswüchse von Armut und Ungleichheit, um aufzuzeigen, wie sehr Diskriminierung das Wesen der heutigen Gesellschaft bestimmt.
Jeder dieser Ansätze birgt wichtige Erkenntnisse. Und doch bewirken sie in ihrer Gesamtheit, dass viele Studenten die Verachtung unserer ererbten politischen Institutionen als Kennzeichen ihrer intellektuellen Reife deuten.» (Seiten 281/282)
Identitätspolitik versus Universalismus
Universalistische Prinzipien prägen die Verfassungen demokratischer Staaten. Demokratie und Rechtsstaat sind ohne Universalismus verloren. Nur auf einer universalistischen Basis gedeiht ein freiheitliches und zugleich friedliches, tolerantes und demokratisches Miteinander in anonymem Großgesellschaften. Damit entstehen die Voraussetzungen dafür, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden kann und jedes Individuum die gleichen Rechte hat, die wiederum im Großen und Ganzen von allen respektiert werden.
Thomas Apolte schreibt dazu:
«Der Universalismus ist nicht allein eine rechtliche Grundlage unserer freiheitlichen politischen und ökonomischen Ordnung. Vielmehr steckt hinter ihm eine über viele Jahrhunderte gewachsene Kultur, welche sich aber erst seit dem beginnenden 19. Jahrhundert zu der Kombination von liberalen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Grundsätzen zusammenfügte, die unsere freiheitlichen Demokratien heute ermöglichen. Das war ein großer Glücksfall für die Menschen, die heute in ihnen leben dürfen. Die sich seit gut zwei Jahrzehnten verdichtenden identitätspolitischen Angriffe auf den Universalismus setzen alles das aufs Spiel, auf der rechten Seite aus Böswilligkeit und auf der linken Seite aus einer Uneinsichtigkeit, die sich mit gesellschaftlichem Fortschritt verwechselt.»
Ein universalistischer Ansatz wird dafür kämpfen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Das war beispielsweise der Traum des Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929 – 1968). Er strebte danach, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt («Farbenblindheit»).
In seiner berühmten «I have a dream»-Rede am 28. August 1963 sagte King:
«Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.»
Die Identitätspolitik pflegt dagegen einen Ansatz, der sich fundamental von diesem Universalismus der Menschenrechte unterscheidet. Hier werden die Mitglieder einer diskriminierten Gruppe in einem ersten Schritt mittels kultureller, ethnischer, sozialer oder sexueller Merkmale identifiziert. Menschen, die diese Eigenschaften besitzen, werden zu der Gruppe gezählt, die dabei oft als homogen betrachtet wird. Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen, werden dagegen ausgeschlossen. Tendenziell werden dabei Menschen nicht in erster Linie als Individuen betrachtet, deren Identität sich aus unterschiedlichen und veränderlichen Bestandteilen zusammensetzen kann, sondern als Träger einer eindeutigen kollektiven Opfer- oder Schuldidentität. Diejenigen, deren Gruppe in der Vergangenheit unter Ausgrenzungen litt, werden einem Opferkollektiv zugeordnet, das berechtigt ist, von den Trägern der Schuldidentität Läuterungsbekundungen zu verlangen.
Diese identitätspolitischen Spaltungen der Gesellschaft sind mit einem Universalismus nicht zu haben, weil er nicht zulässt, dass aus einem gesellschaftlichen Diskurs heraus bestimmte Gruppen der Bevölkerung herausgehoben und gegenüber andere bevorzugt werden, und zwar mit dem Ziel, wie immer definierte gesellschaftliche Verhältnisse zu gestalten. Genau das ist jedoch der Kern von Identitätspolitik. Sie wird die Wurzeln von Diskriminierungen nicht aufheben und stattdessen Gruppenverhältnisse und Identitäten zwangsläufig konfliktträchtig politisieren.
Sollte die Identitätspolitik sich auf Kosten von Universalismus zunehmend durchsetzen, geht das auf Kosten von Demokratie und Rechtsstaat. Die Standpunkttheorie beispielsweise hat zur Folge, dass Aussagen von Menschen nicht das gleiche Gewicht oder sogar gar kein Gewicht haben, je nach dem, zu welcher Gruppe sie gehören. Das setzt universalistische rechtsstaatliche Prinzipien ausser Kraft.
Quellen:
«Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter», von Thomas Zoglauer, Springer Vieweg Verlag 2021 (Seiten 30 – 35)
«Ein falsches Wort – Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht», von René Pfister, DVA Verlag 2022 (Seite 232)
«Der Universalismus und die Zukunft des Westens», von Thomas Apolte (publiziert in: Wirtschaftliche Freiheit – das ordnungspolitische Journal)
Siehe auch:
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Identitätspolitik versus Universalismus
Identitätspolitik unterminiert Wissenschaft
Buchtipps:
☛ «Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmassung und Selbsthass», von Susanne Schröter, Herder Verlag 2022; Buchbesprechung und Zitate.
☛ «Identitätspolitik» von Bernd Stegemann, Matthes & Seitz Verlag Berlin 2023. Siehe dazu auch: Buchbesprechung und Zitate.