Identitätspolitik ist ein Begriff, der nicht einfach zu definieren und zu erklären ist. In der Öffentlichkeit taucht Identitätspolitik auf, meist ohne als solche benannt zu werden, wenn zum Beispiel über «gendern», Gendertoiletten, «Politische Korrektheit» oder «Kulturelle Aneignung» diskutiert wird. Identitätspolitik umfasst aber viel mehr als diese Schlagworte. Unter anderem unterminiert sie in starkem Masse auch die Wissenschaft. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die dazu gehörigen Theorien an Universitäten etabliert haben und dort gelehrt werden. Dieser problematische bis schädliche Einfluss der Identitätspolitik auf die Wissenschaft soll hier dargestellt werden.
Falls Sie zuerst vertiefend nachlesen möchten, um was es sich bei Identitätspolitik handelt, dann finden sie hier zusätzliche Erläuterungen:
Weshalb zersetzt Identitätspolitik die Wissenschaft?
Die Wurzeln der Identitätspolitik liegen in postmodernen Theorien, vor allem in den Werken von Michel Foucault und Judith Butler. Danach sind Wissen und Wahrheit sozial konstruiert und mittels politischer, ökonomischer und medialer Macht konstruiert. Argumente verlieren dadurch ihre Bedeutung. Dass Fakten unabhängig von sozialen Konstruktionen existieren können, wird fundamental in Frage gestellt. Dass Wissenschaft sich einer unabhängig von Machtdiskursen existierenden Wahrheit annähern könnte, ebenfalls. Stattdessen gibt es unzählige unterschiedliche, gleichwertige Wissensformen und es setzt sich diejenige durch, die machtpolitisch am stärksten ist. Wissenschaft ist in dieser postmodernen Vorstellungswelt nur eine dieser Wissensformen und ein koloniales Projekt weisser Männer.
Diese postmodernen Theorien entziehen der Wissenschaft als Erkenntnismethode den Boden. Wer lauter schreit und bessere Propaganda macht, kann sein «Wissen» dann durchsetzen.
Die postmodernen Wurzeln der Identitätspolitik entziehen der Wissenschaft das Fundament, auf dem diese steht. Und eigenartigerweise werden sie an Universitäten gelehrt und kommen daher als Wissenschaft daher.
Darüber hinaus gibt es aber auch konkretere Punkte, an denen Identitätspolitik die Wissenschaft unterminiert. Nachfolgend dazu Beispiele:
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Die Standpunkttheorie
Thomas Zoglauer beschreibt die Standpunkttheorie in seinem Buch «Konstruierte Wahrheiten» so:
«In der Identitätspolitik spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Nur den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe wird eine objektive Sicht auf die Wirklichkeit zugetraut. Die Standpunkttheorie vertritt die Auffassung, dass bestimmte soziale Standpunkte und ihre Sichtweisen, vorzugsweise diejenigen einer unterdrückten sozialen Minderheit, epistemisch privilegiert seien…..
Andere Sichtweisen werden als biased oder interessegeleitet zurückgewiesen oder es wird ihnen ein falsches Bewusstsein unterstellt. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt demzufolge nicht nur vom Inhalt der Aussage, sondern auch davon ab, wer etwas sagt. Wenn aber die Gruppenzugehörigkeit bestimmt, was wahr und was falsch ist, dann gibt es keine universelle, für alle verbindlichen Wahrheiten mehr, vielmehr wird Wahrheit zu einer Frage der Gruppenloyalität.»
Im wissenschaftlichen Kontext sollte die Güte des Arguments zählen, nicht wer es gesagt hat. Die Standpunkttheorie unterläuft deshalb ein zentrales Anliegen wissenschaftlichen Denkens.
Auf den ersten Blick tönt es tolerant und offen, wenn man sagt, dass jede Gruppe ihr eigenes Wissen und ihre eigene Wahrheit hat. Daraus kann sich aber schnell ein absoluter Wahrheitsanspruch entwickeln, wonach die eigene Gruppe per se Recht hat. Dann schwindet gruppenübergreifendes Verständnis und gruppenübergreifende Kompromisse und Lösungen werden erschwert.
Der Identitätspolitik geht es bei der Standpunkttheorie vor allem um Gruppen, die sich durch Merkmale wie Geschlecht oder Hautfarbe definieren. Wenig beachtet werden zum Beispiel Sprecherpositionen, die sich durch Einkommen (tiefes/hohes) oder Bildung (Akademiker/Nicht-Akademiker) unterscheiden.
Beim Standpunkt des Sprechers ist aber nicht nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe entscheidend. Es wirkt in der Identitätspolitik auch eine Opferhierarchie mit und beeinflusst, ob Aussagen als gültig betrachtet werden. Darauf verweist auch Caspar Hirschi in einem Beitrag für die «NZZ am Sonntag». Der Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen sieht die Geisteswissenschaften in Strudel einer neuen Identitätspolitik, die jede kritische Selbstreflexion unterbindet. Er schreibt zu dieser Entwicklung:
«Wissenschaft wurde nun gedacht wie die Arche Noah: Alle Tierarten mussten vertreten sein. Das hatte noch seine Berechtigung. Von fataler Einfalt hingegen war die damit verbundene Haltung, am grössten sei die wissenschaftliche Wahrheit bei jenen Tieren, die ganz unten in der Nahrungskette stünden. Das gab weltanschaulichen Gruppen Auftrieb, die alle Lämmer oder Küken sein wollten und sich stritten, wer von der Raubtierwelt mehr bedroht sei. Opferstatus ist nun mal keine wissenschaftliche Position, denn er erlaubt weder Selbstkritik noch Beobachtungsdistanz. Wo es aber keine Distanz gibt, schlägt die politische Aussenwelt, wie die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts zeigt, voll durch. Vielfalt in der Wissenschaft ist nur dann ein Gewinn, wenn sie vom gemeinsamen Bemühen zur Distanzierung von der eigenen Beobachtungsposition getragen wird.»
Mehr zur Standpunkttheorie hier:
Standpunkttheorie der Identitätspolitik unterminiert Wissenschaft und Demokratie
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Absolutsetzung von Gefühlen statt Austausch von Argumenten
Auf postmodernen Theorien basierende Identitätspolitik stellt sehr gerne Rationalität und Wahrheit unter Ideologieverdacht. Gefühle werden gleichrangig neben Wahrheiten gestellt.
Thomas Zoglauer führt dazu aus:
«Die subjektive Erfahrung benachteiligter Gruppen sei in Diskursen ebenso zu berücksichtigen wie objektive Tatsachen. Wenn subjektive Gefühle rationale Argumente aufwiegen, neutralisieren oder sogar übertrumpfen können, dann ist ein Konsens nicht mehr möglich, dann wird die Polarisierung der Gesellschaft eher noch verstärkt. Anstelle an Gemeinsamkeiten zu appellieren werden Unterschiede und divergierende Meinungen betont. …Ein Streit kann nur dann eine positive demokratische Funktion entfalten, wenn um Lösungen gerungen wird und ein vernünftiger, für alle Seiten tragfähiger Konsens gefunden wird. Wenn Gefühl gegen Gefühl steht oder alternative Fakten gegen empirische Tatsachen in Stellung gebracht werden, dann bleiben konkurrierende Machtansprüche bestehen, die mit anderen Mitteln als guten Argumenten ausgefochten werden. Eine agonistische Demokratie wird so zu einer postfaktischen Demokratie, in der objektive Wahrheiten nicht mehr anerkannt werden und jede Gruppe in ihrer eigenen sozial konstruierten Wirklichkeit lebt.» (Seite 29/30)
Nicht nur demokratische, sondern auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen werden so vergiftet und die Annäherung an einen Konsens erschwert.
Der Psychologie-Professor Tilmann Betsch schreibt in seinem Buch «Science matters!»:
«Bei identitätsbegründeten Diskursen wird Gott durch das Individuum und dessen inneren Erlebenszustand ersetzt. Jedes Individuum wird damit ermächtigt, sich zum Polizisten über die Gedankenwelt anderer zu erheben. Was prompt in die Falle des Dogmas führt. George Orwells Dystopie von ‘1984’ lässt grüssen.»
Auf dieser Grundlage wird zum Beispiel «Beleidigt sein» als Ersatz für Argumente ins Feld geführt. So sind weder demokratische noch wissenschaftliche Diskurse möglich.
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Mangelhafte Ergebnisoffenheit der Forschung
Die Theorien der Identitätspolitik sind stark aktivistisch geprägt. Die Forschung orientiert sich deshalb über weite Bereiche an politischen Zielen. Sie verliert damit an jener Ergebnisoffenheit, die für Wissenschaft essenziell ist. Der Biologe Florian Schwarz – er verwendet statt Identitätspolitik den Begriff «Wokeness» – sieht darin eine Abkehr von den naturwissenschaftlichen Prinzipien und vom humanistischen Weltbild:
«In den Geistes- und Sozialwissenschaften führt Wokeness bereits seit Jahren dazu, dass kein objektiver Standpunkt gegenüber Forschungsobjekten eingenommen wird, sondern ein moralischer, die entsprechenden Arbeiten sind deshalb nicht mehr wirklich ergebnisoffen.
Das wird schnell klar, wenn man sich vor Augen führt, dass Wokeness eigentlich nur ein anderes Wort für „Critical Social Justice“ ist. „Critical“ bedeutet hier nicht nur kritisch den gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen gegenüber. Kritisch werden hier vielmehr die üblichen Methoden gesehen, mit denen heute Wissen über die Welt gewonnen wird. Kritik bedeutet hier besonders auch „Selbstkritik“ derjenigen, die von gesellschaftlichen Privilegien profitieren.
Wokeness geht von folgenden Prämissen aus: Wissen ist nicht das, was wir an Erkenntnissen über die Realität sammeln, indem wir unsere Ideen, Vorstellungen, Hypothesen an ihr testen und dann korrigieren und anpassen. Wissen ist vielmehr ein soziales Konstrukt. Gruppen, die sich durch verschiedene Eigenschaften auszeichnen – etwa die ethnische Herkunft, die Kultur, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder Identität – machen ihre eigenen Erfahrungen und verfügen deshalb über ein eigenes spezifisches Wissen. Da andere Gruppen nicht dieselben „gelebten Erfahrungen“ machen, können sie dieses Wissen nicht infrage stellen.»
Auch die fehlende Ergebnisoffenheit der Identitätspolitik untergräbt die Grundlagen der Wissenschaft.
4. Negierung der intersubjektiven Überprüfbarkeit
Intersubjektive Überprüfbarkeit ist ein zentraler Punkt in der Wissenschaft. Erkenntnisse müssen auch von Anderen nachgeprüft werden können. Identitätspolitik setzt in sehr starkem Mass das subjektive Gefühl und Befinden absolut. Auf dieser Basis ist intersubjektive Überprüfbarkeit weder nötig noch möglich. Armin Pfahl-Traughber attestiert der Identitätspolitik einen Abschied von der intersubjektiven Überprüfbarkeit:
„Als ausreichender Beleg für die Diskriminierung von Minderheiten gilt, wenn die Betroffenen eine derartige Empfindung haben. Der anerkennenswerte Gesichtspunkt dabei ist, dass auch die Blickrichtung der Diskriminierungsopfer wichtig ist. Gleichwohl darf diese Erweiterung von Kenntnissen nicht dazu führen, dass es keine nachvollziehbaren Maßstäbe mehr für eine inhaltliche Zuordnung geben kann. Eine solche Auffassung richtet sich gegen die Forderung, dass Bewertungen intersubjektiv nachvollziehbar sein müssen. Individuelle Empfindungen stellt man damit über wissenschaftliche Grundprinzipien. Derartige Auffassungen laufen dann über eine politische Instrumentalisierung auf subjektive Willkür hinaus. So gelten kritische Einwände zum Islam als „Islamophobie“, ohne für die Bezeichnung genaue Kriterien vorbringen zu können. Den Begriff nutzen denn auch Fundamentalisten und Islamisten, um sich kritischen Prüfungen durch Rassismus-Vorwürfe zu entziehen.“
Quellen:
“Science matters!”, von Tilmann Betsch, Springer Sachbuch 2022.
«Konstruierte Wahrheiten», von Thomas Zoglauer, Springer Vieweg Verlag 2021.
«Sollen Elefanten Zoologie dozieren?», von Caspar Hirschi, NZZ magazin.
«Wokeness ist letztlich eine anti-wissenschaftliche Weltanschauung», von Florian Schwarz, Humanistischer Pressedienst (hpd).
„Die antiaufklärerische Dimension linker Identitätspolitik„, von Prof. Armin Pfahl-Traughber (Hans-Albert-Institut, 2021)
Siehe zu Identitätspolitik auch:
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Identitätspolitik versus Universalismus
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik liegt falsch: Die Biologie kennt zwei Geschlechter, nicht mehr
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Identitätspolitik als Gift für die Demokratie
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
Ausserdem zum Thema:
☛ Die Unterminierung von Wissenschaft und Aufklärung durch Identitätspolitik ist Gegenstand eines Vortrags des Philosophen Dr. Andreas Edmüller (der nicht von Identitätspolitik spricht, sondern vom Woke-Phänomen):
☛ Alan Sokal und Richard Dawkins beschreiben in diesem Artikel, wie Identitätspolitik Medizin, Wissenschaft und insbesondere auch Biologie untergräbt:
Sex and gender: The medical establishment’s reluctance to speak honestly about biological reality (Boston Globe)
☛ „Die ideologische Unterwanderung der Biologie„, von Jerry A. Coyne und Luana S. Maroja (Richard Dawkins Foundation)
☛ Der US-amerikanische Physiker Alan Sokal beschreibt im Magazin «The Critic», wie wie Wokeness / Identitätspolitik als irrationale Ideologie die Wissenschaft verzerrt:
„It is never justified to distort the facts in the service of a social or political cause, no matter how just. […] And when an organization that proclaims itself scientific distorts the scientific facts in the service of a social cause, it undermines not only its own credibility but that of science generally.“
Zum Beitrag: https://thecritic.co.uk/woke-invades-the-sciences/