Der Universalismus geht davon aus, dass bestimmte Rechte jedem Menschen zeit- und ortsunabhängig zukommen. Damit verbunden ist die Überzeugung, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen fähig sind, viele gemeinsame Werte zu teilen und sich auf manche Grundsätze zu einigen.
Der Universalismus war und ist eine zentrale Basis für demokratische Gesellschaftsmodelle. Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sind ohne Elemente des Universalismus nicht realisierbar.
Bernd Stegemann schreibt in seinem Buch «Identitätspolitik» zum Ursprung des Universalismus:
«Ungleichheit ist das Kennzeichen menschlicher Gesellschaften. Seien es die antiken Sklavenhalter-gesellschaften, der mittelalterliche Ständestaat oder der Feudalismus, sie alle teilten Menschen in Gruppen ein, denen verschiedene Rechte und Pflichten zustanden. Das Wort eines Sklaven konnte gegen das eines Römers nichts ausrichten, und die Rechte eines Adeligen waren grundsätzlich andere als die eines Bauern.»
Angesichts dieser langen Geschichte der Ungleichheit könne die revolutionäre Sprengkraft der Ideen der bürgerlichen Aufklärung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:
«Erstmalig wurde eine Gesellschaft gefordert, die gleiche Rechte und gleiche Freiheiten für alle Menschen gewähren sollte. Die regulative Idee des Universalismus setzte zahlreiche fortschrittliche Kräfte frei, die zur amerikanischen und zur französischen Revolution führten. Und diese Neugründungen bürgerlicher Gesellschaften wurden weltweit zum Vorbild für erstrebenswerte Staatsbildungen.
Die Idee des Universalismus ist zwar revolutionär, doch zugleich ist sie eine regulative Idee. Das meint, dass sie keinen Realzustand beschreibt, sondern ein Ideal.»
Es besteht also eine Differenz zwischen dem Ideal der universalistischen Gleichheit und den realen Ungleichheiten. So hatten zum Beispiel Frauen und Schwarze in den USA noch lange keine gleichen Rechte, obwohl die Gesellschaften universalistisch ausgerichtet waren. Die Differenz zwischen Ideal und Realität war und ist immer noch Ansporn für universalistische Kritik.
Martin Luther King als Vertreter des Universalismus
Ein universalistischer Ansatz kämpft dafür, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Das war beispielsweise der Traum des Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929 – 1968). Er strebte danach, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt («Farbenblindheit»).
In seiner berühmten «I have a dream»-Rede am 28. August 1963 sagte King:
«Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.»
Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung führte einen universalistischen Kampf. Sie forderte die Gleichberechtigung der Schwarzen als Personen, nicht die Zuerkennung von Rechten als Schwarze, wie es eher dem identitätspolitischen Ansatz entspricht.
Denn Identitätspolitik pflegt einen Ansatz, der sich fundamental vom Universalismus unterscheidet.
Sie spaltet die Gesellschaft in eine böse, rassistische, sexistische, heteronormative Mehrheitsgesellschaft einerseits – und verschiedene gute, diskriminierte Minderheiten mit Opferstatus andererseits. Die Mehrheitsgesellschaft wird zudem oft noch unterteilt in jene Menschen, die einsichtig sind bezüglich ihres «white privilege» und dafür Busse tun, und jene, die uneinsichtig sind. Die Minderheiten dagegen werden unterteilt in verschiedene Opferkategorien, die je nach dem Mass ihrer Unterdrückung in der Opferhierarchie höher oder tiefer stehen.
Universalismus als Basis für Menschenrechte
Der Universalismus verlangt die allgemeine und egalitäre Berücksichtigung weltweit aller Menschen als individuell zu achtende Rechtssubjekte (Träger von Rechten und Pflichten). Zu den wichtigsten Menschenrechten gehören das Recht auf Leben, Unversehrtheit der Person, Gleichbehandlung, vor allem das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit.
Menschenrechte sind also Rechte, die jedem Menschen schon durch sein Menschsein zustehen, und dies unabhängig von seinen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten, seinem Status und seiner Gruppenzugehörigkeit (Nationalität, Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Religions- und Parteizugehörigkeit).
Auch ein brutaler Mörder wie der Norweger Anders Behring Breivik hat also Anspruch auf bestimmte Menschenrechte, weil man diesen Anspruch auch durch unmenschliches Verhalten nicht verwirken kann. Das mag in manchen Fällen schwer zu akzeptieren sein, ist jedoch die hart erkämpfte Grundlage für ein humanes, demokratisches Zusammenleben. Würde man anfangen, dem Mörder die Menschenrechte abzusprechen, wären sie auch für viele andere Menschen in Gefahr.
Menschenrechte gründen darin, dass allen Menschen eine unveräusserliche Menschenwürde zugeschrieben wird. Der Philosoph Roland Kipke schreibt dazu in seinem Buch «Jeder zählt»:
«Jeder hat denselben fundamentalen Wert. Dieser Wert ist nichts Verrechenbares, Nützliches oder dergleichen, sondern ein Wert an sich. Jeder Mensch hat Bedeutung. Nicht als Mittel für irgendetwas anderes, sondern in sich selbst. Der Ausdruck für diesen Gedanken ist: Der Mensch hat Würde. Und warum hat er das? Wegen seiner Leistung? Dann wäre die Würde sehr ungleich verteilt, und Babys hätten keine. Aber warum dann? Weil Mensch klug und vernünftig ist? Ha! Weil jeder edel, hilfreich und gut ist? Ha, ha. Nein, der einzelne Mensch hat Würde nur wegen einer einzigen Tatsache: weil er ein Mensch ist. Es ist keine Würde des Amtes, wie sie Präsidentinnen und Kanzler umweht. Keine stolze Würde des Könnens, die nur den Könnern zukommt. Keine Würde des Alters, die den Greisen vorbehalten ist. Keine aristokratische Würde, die aus vornehmen Stammbäumen spriesst. Sondern eine Würde des Menschseins.»
Diese universellen Menschenrechte und die Menschwürde werden von verschiedenen Seiten als naiv oder allzu idealistisch ins Lächerliche gezogen oder von Exponenten der Identitätspolitik als westliches Machtgebaren diffamiert. Dem ist aber entgegenzusetzen, dass dieser Universalismus uns Schritt für Schritt zivilisatorisch vorangebracht hat und die Basis bildet für ein friedliches, demokratisches Zusammenleben. Denn diese Grundrechte wurden entwickelt, um den Religionsfrieden zu wahren, nachdem sich auf europäischem Boden über viele Jahre christliche Konfessionen bekämpft hatten. Nach dem Dreissigjährigen Krieg (1618 – 1648) lag Europa zerstört am Boden.
Partikularismus gegen Universalismus
Dem Universalismus steht der Partikularismus entgegen. Partikularistische Konzepte sprechen bestimmten Menschengruppen mehr oder andere Rechte zu, während universelle Rechte allen Menschen zustehen. Der Politik- und Islamwissenschaftler Bassam Tibi betont zum Beispiel, dass Menschenrechte im Islam Partikularrechte sind. Auch in der islamischen Tradition wird von Menschenrechten gesprochen, die aber nur für Muslime gelten. Der Philosoph Alexander Ulfig schreibt dazu in seinem Buch «Wege aus der Beliebigkeit»:
«Im Islam ist Gott der alleinige Gesetzgeber. Das bedeutet, dass nicht Menschen die Menschenrechte festgelegt haben, sondern dass sie von Gott den Menschen gegeben wurden. Anders ausgedrückt: Sie beruhen nicht auf menschlicher Autonomie, also auf der Fähigkeit des Menschen, Ansprüche zu formulieren, sie zu verteidigen und einzulösen, sowie auf seiner Entscheidungsfreiheit, sondern einzig und allein auf dem Willen Gottes.
Menschenrechte im Islam sind daher eher Pflichten (Faraid) gegenüber der Gemeinschaft der Muslime (Umma) als einklagbare Rechte. Sie wurden vom Gott den Menschen auferlegt. Darüber hinaus werden islamische Menschrechte nur den Vertretern des rechten Glaubens, also den Muslimen, in vollem Umfang zuerkannt.»
Bassam Tibi zufolge kennt die islamische Tradition nicht die Vorstellung eines freien, sich selbst bestimmenden Individuums, das eigene Ansprüche formuliert und sie gegenüber dem Staat und anderen Institutionen durchsetzt. Eine Individuation, also die Herausbildung der Individualität in dem oben aufgeführten Sinne, hat im Islam nie stattgefunden. Ulfig zitiert Bassam Tibi wie folgt:
«In den Augen der Muslime besteht die Menschheit aus Kollektiven (das – nur im Ideal einheitliche – Kollektiv der Muslime und die Kollektive der anderen als Feinde).»
Partikularistische, regressive Strömungen aus der islamistischen Szene passen in dieser Hinsicht gut zu den vermeintlich progressiven partikularistischen Strömungen linker Identitätspolitik. Beide stellen sich gegen den Universalismus. Vielleicht ist das mit ein Grund dafür, dass sich diese beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Szenen oft recht gut verstehen. Identitätspolitische Akteure werden islamkritische Passagen wie die oben aufgeführte deshalb sehr erwartbar als «transphob» brandmarken.
Wenn hier der Islam als Beispiel für partikularistische Menschenrechts-Vorstellungen aufgeführt wird, dann sollte gleichzeitig auch erwähnt werden, dass der Universalismus in seinen Anfängen seine eigenen Ideale in vielerlei Hinsicht noch keineswegs erfüllte. In Theorie und Praxis war er teilweise klar partikularistisch. Wichtige Gründungsdokumente wie die französische Erklärung der Droits de l’Homme et du Citoyen und die US-amerikanische Bill of Rights, beide von 1789, wiesen keinen für alle gültigen, universellen Charakter auf.
Sie hatten in der Regel nur Gültigkeit für weisse, besitzende, männliche, christliche Staatsangehörige. Zur Aufklärung und zum Universalismus gehört aber auch, dass solche Defizite vielfach kritisiert wurden. Die Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Revolutionärin Olympe de Gouges (1748 – 1793) mit ihrer Schrift «Erklärung der Rechte der Frau» (1791) und die Schriftstellerin, Philosophin, Übersetzerin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft (1759 – 1797) mit ihrer Schrift «Verteidigung der Rechte der Frau (1792) wiesen beide auf den partikularen Charakter der Droits de l’Homme et du Citoyen hin.
John Rawls und der Schleier des Nichtwissens
John Rawls (1921 – 2002) hat mit seiner «Theorie der Gerechtigkeit» mit einem Gedankenexperiment eine vertragstheoretische Version des Universalismus beschrieben.
Dazu stellt man sich einen fiktiven Urzustand mit einer Gruppe von Menschen vor, die hinter einem «Schleier des Nichtwissens» sitzen. Es handelt sich um freie und vernünftige Personen, die zusammen die Grundstruktur einer künftigen Gesellschaft und ihre Gerechtigkeitsprinzipien festlegen sollen. Wichtig dabei ist, dass diese Menschen kein Wissen über sich selbst haben, zum Beispiel über die soziale Stellung, die sie in dieser Gesellschaft haben, über ihre Talente und Interessen, über ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht, ihre Rechte und Pflichten. So soll es – hinter diesem «Schleier des Nichtwissens – möglich sein, gerechte Regeln und Gesetze festzulegen.
Natürlich handelt es sich dabei um ein Gedankenexperiment, dass so nicht direkt in der Realität zur Anwendung kommen kann. Kein Mensch kann so radikal von seiner eigenen Position abstrahieren. Das Gedankenexperiment veranschaulicht jedoch gut grundlegende universalistische Prinzipien.
Wie greift Identitätspolitik den Universalismus an?
Identitätspolitik greift den Universalismus an verschiedenen Punkten und von verschiedenen Seiten an. Identitätspolitik gibt es von rechts, von links und aus der islamistischen Sphäre. Die Politologin Ulrike Ackermann schreibt dazu in ihrem Buch «Die neue Schweigespirale»:
«Die Identitätspolitik von rechts strebt ein ethnisch homogenes Volk an, jene vonseiten des politischen Islams führt den Kampf gegen den ungläubigen Westen, und die von links kämpft gegen die weisse, patriarchale, kolonialistische Tätergesellschaft. Alle drei attackieren die freiheitlichen Errungenschaften der Moderne, die Aufklärung und den Universalismus der Menschenrechte und sind militant antiliberal.»
In ihrer antiuniversalistischen Grundhaltung treffen sich identitätspolitische Linke, identitäre Rechte und identitäre Islamisten.
Die beiden US-Politikwissenschaftler Jonathan Haidt und Greg Lukianoff unterscheiden zwischen «common humanity identity politics» und «common enemy identity politics».
Die «common humanity identity politics» versucht, gesellschaftliche Gleichberechtigung durch den Appell an allgemeine Prinzipien des Universalismus anzustreben. Das tut sie mit gutem Grund, denn mit diesem Instrumentarium wurden die erfolgreichen emanzipatorischen Kämpfe der Vergangenheit bestritten, wie zum Beispiel gleiche Rechte für Arbeiter, Frauen, Schwarze und Homosexuelle. Der Politikwissenschaftler Michael Bröning schreibt dazu in seinem Buch «Vom Ende der Freiheit»:
«Der Ansatz ist politisch so effektiv, weil er an allgemeine Ideen der Reziprozität anknüpft und gemeinsames Handeln durch die Vision einer gemeinsamen Zukunft befördert, wie sie insbesondere durch Stimmen wie Martin Luther King beschworen wurde. Im Gegensatz dazu beruht der zweite von Haidt und Lukianoff identifizierte Ansatz massgeblich auf der Konstruktion eines gemeinsamen Feindbildes und schliesst eine Verständigung zwischen unterschiedlichen Positionen aus.»
In dieser «common enemy identity politics» treffen sich identitätspolitisch-partikularistische Aktivisten aus der linken, rechten und islamistischen Szene.
Die Brisanz der aktuellen Entwicklung sieht Bröning darin, dass von Teilen der aktivistischen Linken die klassische Rollenverteilung zwischen Links und Rechts zunehmend aufgekündigt wird:
«Progressive Stimmen…, die nicht mehr universalistisch, sondern identitär-partikularistisch argumentieren, untergraben die Basis eines jeden fortschrittlichen Freiheitsbegriffs ebenso wie die tradierten Philosophien der Ungleichheit von rechts. Doch während die Tücken rechtsidentitärer Ideologien in aller Munde sind, werden die identitätspolitischen Ansätze des Wokeism erst in letzter Zeit etwas kritischer unter die Lupe genommen – und auch hier nur reichlich selektiv. In weiten Teilen des progressiven Milieus werden sie weiterhin wohlwollend und vor allem als zukunftsweisend interpretiert.»
So sollen hier nun vor allem einige Punkte konkreter dargelegt werden, an denen linke Identitätspolitik den Universalismus angreift:
☛ Die Standpunkttheorie der Identitätspolitik
Die Identitätspolitik unterminiert durch eine Standpunkttheorie die Existenz von universellen, für alle verbindlichen Wahrheiten. Thomas Zoglauer schreibt dazu in seinem Buch «Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter»:
«In der Identitätspolitik spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Nur den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe wird eine objektive Sicht auf die Wirklichkeit zugetraut. Die Standpunkttheorie vertritt die Auffassung, dass bestimmte soziale Standpunkte und ihre Sichtweisen, vorzugsweise diejenigen einer unterdrückten sozialen Minderheit, epistemisch privilegiert seien…..
Andere Sichtweisen werden als biased oder interessegeleitet zurückgewiesen oder es wird ihnen ein falsches Bewusstsein unterstellt. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt demzufolge nicht nur vom Inhalt der Aussage, sondern auch davon ab, wer etwas sagt. Wenn aber die Gruppenzugehörigkeit bestimmt, was wahr und was falsch ist, dann gibt es keine universelle, für alle verbindlichen Wahrheiten mehr, vielmehr wird Wahrheit zu einer Frage der Gruppenloyalität.»
Im Universalismus setzt sich idealerweise das beste Argument durch, unabhängig vom Standpunkt des Sprechers. In der Identitätspolitik haben Argumente von tatsächlichen oder angemassten Opfern absolute Gültigkeit und dürfen nicht in Frage gestellt werden. Bernd Stegemann schreibt dazu in seinem Buch «Identitätspolitik»:
«Die Sortierung der Argumente nach Identitätskriterien ist ein Rückfall in die Machttechniken der Vormoderne.»
Es ist zwar wichtig, dass Opfer oder unterdrückte Minderheiten reden können und ihren zugehört wird. Sie haben aber nicht immer und absolut recht. Die Philosophin Susan Neiman zitiert dazu in ihrem Buch «Links ist nicht woke» den Philosophen Olúfẹ́mi O. Táíwò:
«Schmerz, ob geboren aus Unterdrückung oder nicht, ist ein schlechter Lehrer. Leid ist parteiisch, kurzsichtig und ichbezogen. Wir sollten keine Politik betreiben, die etwas anderes annimmt. Unterdrückung ist keine Vorschule.»
Susan Neiman führt dazu aus:
«Ein Trauma, so Táíwò, ist bestenfalls die Erfahrung der eigenen Verwundbarkeit und verbindet uns mit den meisten Menschen auf dieser Erde, aber “es verleiht mir kein besonderes Recht, für eine Gruppe zu sprechen, zu urteilen oder etwas zu entscheiden.” Er meint, die Aufwertung des Traumas führt nicht zu sozialem Wandel, sondern nur zu einer Politik der Selbstdarstellung.»
Die von Táíwò geäusserte Kritik richte sich gegen Kernthesen der Standpunkttheorie, der zufolge unsere Erkenntnisse abhängig sind von unserer sozialen Stellung, schreibt Neiman, und kommt zum Schluss:
«Wir sollten zu einer Haltung zurückkehren, für die Autoritätsansprüche darauf gründen, was man in der Welt getan hat, nicht darauf, was die Welt einem angetan hat. Damit würden die Opfer keineswegs wieder auf dem Scheiterhaufen der Geschichte landen. Vielmehr könnten wir dann in der Sorge für die Opfer eine Tugend sehen, ohne das Opfersein selbst als Tugend zu reklamieren.»
☛ Ablehnung des menschlichen Einfühlungsvermögens
Bernd Stegemann beschreibt dieses Phänomen so:
«Damit der Universalismus konkret werden kann, braucht es die Bereitschaft eines jeden Einzelnen zu einer besonderen Anerkennung des anderen. Diese Bereitschaft muss allgegenwärtig sein und permanent eingeübt werden. Aus diesem Grund haben die liberalen Gesellschaften alle Interaktionen mit einer anspruchsvollen Regel versehen: ”take the role of the other”. Damit ist gemeint, dass jeder die Bereitschaft aufbringen muss, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Nur durch diese empathische Arbeit können Vorurteile abgebaut werden und kann Verständnis für den anderen entwickelt werden.
Doch genau diese Fähigkeit des Menschen zur empathischen Anteilnahme wird von der Identitätspolitik infrage gestellt. Ihre Gegenbehauptung lautet, dass die Erfahrung von Diskriminierung und Rassismus so einzigartig sind, dass sie von niemandem nachgefühlt werden können, der nicht genau die gleichen Erfahrungen gemacht hat. Eine solche Identitätskonstruktion verweigert, dass Aussenstehende sie verstehen dürfen. Eine solche Absage an die Voraussetzungen der Gleichheit zwischen Menschen ist folgenreich und sie untergräbt den erreichten zivilisatorischen Stand.»
Überzeugend sind diese identitätspolitischen Behauptungen nicht. Bernd Stegemann weist darauf hin, dass die Erfahrungen der feindseligen Ausgrenzung vielfältig seien und nicht jede dieser schlechten Erfahrungen auf rassistische Motive zurück gehe. Er fährt fort:
«Das Kind, das weniger beweglich ist, kann in der Turnstunde gehänselt werden, oder der Schüler, der die ”falsche” Kleidung trägt, kann deswegen ausgeschlossen werden. Die Hautfarbe spielt dabei keine Rolle. Da alle Menschen die Erfahrung von Diskriminierung machen und sie zur Übertragung fähig sind, ist die Behauptung, dass niemand eine spezifische Diskriminierung nachfühlen könne, falsch.
Wenn behauptet wird, dass Menschen nur die mit ihrer Biografie identischen Erfahrungen auch nachvollziehen können, spricht dies der Menschlichkeit ihre grundlegende Eigenschaft ab. Denn es ist gerade die Fähigkeit zur Identifikation mit dem Fremden, die Menschen auszeichnet……
Warum die Menschlichkeit um diese Dimension verkürzt werden soll, ist erklärungsbedürftig.»
Genau genommen führt die Identitätspolitik hier in einen unauflösbaren Widerspruch. Sie fordert einerseits die Einfühlung in die Lage der Minderheiten, und betont andererseits, dass Aussenstehende die betroffenen Opfer nie verstehen können.
☛ Identitätspolitik diffamiert Universalismus als parteiischen Machtanspruch weisser Männer
Aus der Identitätspolitik – insbesondere aus den postkolonialen Theorien – kommen eine Reihe von ideologischen Angriffen auf Universalismus und Aufklärung. Dem Westen wird hier vorgeworfen, universalistische Ideen von Menschenrechten, Menschenwürde, Vernunft und Wissenschaft nur zu missbrauchen, um eigene, partikularistische Machtansprüche und Überlegenheitsvorstellungen durchzusetzen. Diese Kritik hat einen wahren Kern, schiesst aber weit über das Ziel hinaus und schüttet das Kind mit dem Bade aus. Bernd Stegemann schreibt dazu:
«Schaut man auf die historische Entwicklung der universalistischen Ideen, so ist offensichtlich, dass sie neben ihrer fortschrittlichen Agenda auch als Begründung für Ungleichheiten herhalten mussten. Die bürgerliche Gesellschaft hat die Ungleichheiten des Kapitalismus nicht nur toleriert, sondern befördert. Und die weissen Gesellschaften haben den Universalismus lange auf ihre Hautfarbe begrenzt, womit sie eine Legitimation zu haben schienen, andere Menschen versklaven und kolonialisieren zu dürfen. Kritik am Universalismus ist also notwendig und gehört zur Entwicklung einer aufgeklärten Gesellschaft.
Die identitätspolitische Kritik am Universalismus setzt jedoch am Fundament an, indem sie verkennt, dass der historische Missbrauch kein hinreichender Einwand gegen die regulative Idee des Universalismus ist. Dass eine regulative Idee falsch gebraucht wird, widerlegt nicht den Wert dieser Idee. Dennoch werden von der Identitätspolitik die historischen Fehler dazu verwendet, um die universelle Idee der Gleichheit zu einer parteilichen Doktrin weisser Menschen zu machen…..Identitätspolitik will die Idee des Universalismus abschaffen, indem sie sie auf eine Identitätspolitik weisser Menschen reduziert. Es handelt sich also um einen Angriff auf das Fundament der gleichen Gesellschaft.»
Susan Neiman schreibt dazu:
«Mittlerweile ist es zum Credo geworden, dass der Universalismus ebenso wie jede andere Idee der Aufklärung ein Taschenspielertrick ist, mit dem die eurozentrischen, kolonialistischen Ansichten verschleiert werden sollten.»
Diese These sei unbegründet. Sie stelle auch die Aufklärung auf den Kopf:
«Es waren schliesslich die Aufklärer, welche die Kritik am Eurozentrismus erfanden und den Kolonialismus als Erste verurteilten – und dies auf der Grundlage universalistischer Ideen.»
Warum ist der Universalismus wichtig? Ein Fazit
Susan Neiman erinnert daran, «welch ungeheure Leistung es war, überhaupt die ursprüngliche Abstraktion hin zur Menschheit zu vollziehen».
Sie schreibt weiter:
«In früheren Zeiten waren Vorstellungen grundsätzlich partikulär, so wie Rechtsvorstellungen früher religiös waren, bis hin zu jedem kleinen Stadtstaat in Griechenland, dessen Gottheiten Menschen Zuflucht gewährten, die von den Gottheiten des Nachbarstaates gehetzt wurden…Die meisten Religionsgesetze kannten Vorschriften für den Umgang mit Angehörigen anderer Religionen, obgleich sie am ehesten dann Erwähnung fanden, wenn gegen die Vorschriften verstossen wurde. Der Gedanke, für Protestanten und Katholiken, Juden und Muslime, Herren und Knechte müsse dasselbe Recht gelten, einzig und allein, weil sie alle Menschen sind, ist eine verhältnismässig junge Errungenschaft. Heute ist er so tief in unsere Vorstellungswelt eingebettet, dass wir darin gar keine Errungenschaft mehr sehen. Dennoch sollten wir diese Abstraktionsleistung würdigen, auch bei jenen Denkern der Aufklärung, die sich nicht zur Höhe der gewaltigen von ihnen erbrachten Leistung aufschwingen konnten und in den Niederungen provinzieller Vorurteile steckenblieben.»
Identitätspolitische Ansätze, die dem Universalismus in vielen Punkten entgegenstehen, sind nicht grundsätzlich falsch. Sie können den Universalismus herausfordern und ihn auf allfällige blinde Flecken aufmerksam machen. Identitätspolitik und Universalismus sind auch nicht grundsätzlich inkompatibel. Gefährlich für Demokratie, Rechtsstaat und Wissenschaft wird Identitätspolitik vor allem, wenn sie fundamentalistisch auftritt und pseudoreligiöse Züge annimmt. Diese Entwicklung ist in den letzten Jahren leider überaus deutlich zu beobachten. Die Philosophie-Professorin Barbara Zehnpfennig sieht «eine neue Ideologisierungswelle durch eine in der Regel aus angelsächsischen Universitäten übernommene Identitätspolitik, die mit ihrem Neo-Tribalismus jenen westlichen Universalismus in Frage stellt, der Grundlage für das demokratische Modell war.» Die Identitätspolitik rüttle «mit ihrer kollektivistischen Ausrichtung bereits an der Wurzel der liberalen Demokratie, nämlich dem Universalismus, welcher der prinzipiellen Gleichheit der Menschen Vorrang vor allen Unterschieden gibt.» Sie stelle «auch die demokratischen Verfahren der Interessenvertretung und Kompromissaushandlung in Frage.»
Aus all diesen Gründen ist es wichtig, den Universalismus zu verteidigen und selbstkritisch weiterzuentwickeln.
Schlussgedanken
«Die Zunahme der Identitätspolitik in modernen liberalen Demokratien ist eine ihrer Hauptbedrohungen. Wenn es uns nicht gelingt, zu einem universalen Verständnis der menschlichen Würde zurückzukehren, werden wir zu ständigen Konflikten verurteilt sein.»
Francis Fukuyama, Politikwissenschaftler, in seinem Buch «Identität».
«Notwendig ist…ein klares Nein zu den Auswüchsen der partikularistischen Identitätspolitik auch und gerade von links. Im Hinblick auf ihre Verheissungen gilt: Der Kaiser ist nackt. Gut, dass mehr und mehr Stimmen den Mut finden, diese Wahrheit offen auszusprechen. In Zeiten, in denen die Prinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit und Universalismus nicht nur von autoritären Staaten und reaktionären Kräften untergraben werden, sondern auch von progressiven Stimmen in demokratischen Gesellschaften, ist ein solches Nein keine Selbstbeschmutzung, sondern Bürgerpflicht.»
Michael Bröning, Politikwissenschaftler, in seinem Buch «Vom Ende der Freiheit».
«Der Pfeil der Identitätspolitik durchbohrt nicht nur den Traum Martin Luther Kings von einer Welt, in der „Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem persönlichen Charakter beurteilt werden“, er streut das Gift des Tribalismus, auf dem letztendlich rechtsextremistische Weltbilder gedeihen. Teile der linken politischen Landschaft leisten somit einer Entwicklung Vorschub, die Rechtsextremisten zugute kommen wird.»
Judith Faessler, Extremismusexpertin (Quelle)
Links zum Thema Identitätspolitik:
Weitere Infos zum Thema Identitätspolitik in folgenden Beiträgen:
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik liegt falsch: Die Biologie kennt zwei Geschlechter, nicht mehr
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
Quellen:
«Identitätspolitik», von Bernd Stegemann, Matthes & Seitz Verlag 2023.
«Wege aus der Beliebigkeit – Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming», von Alexander Ulfig, DWV Verlag 2016.
«Jeder zählt – Was Demokratie ist und was sie sein soll», von Roland Kipke, J.B. Metzler Verlag 2018.
Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter», von Thomas Zoglauer, Springer Vieweg Verlag 2021
«Der Universalismus der Menschenrechte», von Janne Mende, UVK Verlag 2021.
«Links ist nicht gleich woke», von Susan Neiman, Hanser Verlag 2023.
«Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet», von Francis Fukuyama, Hoffmann und Campe Verlag 2019.
«Vom Ende der Freiheit», von Michael Bröning. Dietz Verlag 2021.
«Die neue Schweigespirale – Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt», von Ulrike Ackermann, wbg theiss Verlag 2022.
«Die westliche Demokratie und ihre Verächter», von Barbara Zehnpfennig (praefaktisch.de)