Der ehemalige Bundespräsident Deutschlands, Joachim Gauck, hat sich in einem Gespräch mit dem Tages-Anzeiger neben anderen Themen auch zur zurückhaltenden Unterstützung der Schweiz für die von Russland angegriffene Ukraine geäussert:
«Ich verstehe nicht, dass man nicht ein Mindestmass an Unterstützung in Fällen leistet, in denen eindeutig erkennbar ist, wer Opfer ist und wer Täter. Tritt man für regelbasierte Politik ein, und die Schweiz ist ein absoluter Rechtsstaat, darf man denjenigen, der diese Regeln nicht nur bricht, sondern zerstören möchte, nicht gewähren lassen. Deswegen kann ich das Abseitsstehen der Schweiz nicht nachvollziehen. Bündnisfreiheit, das schon. Aber die Weitergabe von Waffen an die Ukraine zu untersagen, weil es dem Schweizer ‘Daseinsgefühl’ widerspricht, halte ich für einen Fehler.»
Diese Aussage macht Joachim Gauch auf dem Hintergrund eines klaren Blicks auf Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine:
«Mich hat das Wirken von Putin besonders erschüttert. Eine überwunden geglaubte Form, international eine aggressive Grossmachtpolitik zu machen, ist wiederauferstanden. Ich war schon 2016 massiv erschüttert worden, und zwar durch die Wahl von Donald Trump. Aber jetzt haben wir einen Krieg nicht weit von der Mitte Europas entfernt, ein unverschämtes Beharren auf dem Recht des Stärkeren, das sich auch darin zeigt, dass Putin die Bindung an internationales Recht leugnet. Und dann diese Aggressivität, diese brutale Machtdemonstration und diese ideologische Beifracht!»
Quelle:
«Diese Jahrhundertkonfrontation dürfen wir nicht scheuen» (Tages-Anzeiger, Abo)
Anmerkungen:
Was geht das die Schweiz an?
Man hört manchmal in der Schweiz, aber auch in Deutschland, dass der Krieg in der Ukraine nicht unser Krieg sei. Diese Position blendet sehr viel aus. Der Schweiz als Kleinstaat kann es nicht gleichgültig sein, wenn in Europa grössere Mächte Grenzen mit militärischer Gewalt wieder verschieben können. Kommt Putin mit seinem Angriffskrieg durch, wird das auch andere Länder zu ähnlichen Aggressionen gegen Nachbarn ermuntern. Wird Putin in der Ukraine nicht gestoppt, wird er weitermachen und sich andere Länder vorknöpfen. Geht die Ukraine unter, wir eine Flüchtlingswelle von bisher unbekanntem Ausmass auf Europa zukommen. Weil die allermeisten Ukrainerinnen und Ukrainer unter keinen Umständen unter einer brutalen russischen Besatzung leben wollen. Kommt Putin durch, auch weil er mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen kann, werden viele kleinere und mittlere Länder sich sehr rasch überlegen, ob sie nicht auch Atomwaffen brauchen, um solchen Drohungen nicht ohne Gegendrohungsmöglichkeit ausgeliefert zu sein.
Die Folgen eines Untergangs der Ukraine für Europa und auch für die Schweiz wären verheerend. Die Sicherheitslage würde sich über Jahrzehnte drastisch verdunkeln.
Deshalb braucht es Entschlossenheit auf der Seite der USA und Europas, den imperialen Aggressor Putin zu stoppen. Aufgrund ihrer Neutralität ist es klar, dass die Schweiz nicht militärisch eingreifen kann. Sie sollte aber eine Möglichkeit finden, dass Waffen und Munition, die in andere Länder geliefert wurden, in die Ukraine weitergegeben werden können. Es geht hier um einen Verteidigungskrieg eines demokratischen Landes gegen ein autokratisches, kolonialistisches und imperiales Regime.
Die Schweiz sollte die Zeitenwende erkennen und alle nicht-militärischen Möglichkeiten voll ausschöpfen, die sie zur Verfügung hat. Das umfasst wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung, Minenräumung und Wiederaufbauhilfe.
Siehe auch:
Kommt die «Zeitenwende» in der Schweiz an?
Viele Herausforderungen für westliche Demokratien – packen wir das?
Irredentismus in Putin’s Russland als Grundlage für Aggression
Putinismus – Ideologie und Verschwörungstheorien
P.S.: Dass wir auch in der Schweiz mit einer Reihe von SVP-Exponenten wie Roger Köppel und seiner «Weltwoche» eine «Fünfte Kolonne» haben, die russische Propaganda verbreitet, ist hoch problematisch. Dem ist mit allen zivilgesellschaftlichen Mitteln entgegenzutreten.