Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine von einer Zeitenwende» gesprochen. Den deutlichen Worten sind allerdings nur zögerlich Taten gefolgt. Ist die «Zeitenwende» auch in der Schweiz angekommen? Und gibt es überhaupt eine Zeitenwende?
Gibt es die Zeitenwende?
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist jedenfalls ein tiefgreifender Einschnitt. Dass ein sehr grosses Land in Europa ein grosses Land überfällt mit der Absicht, es zu besetzen, sich Teile davon einzuverleiben und den Rest in einen Vasallenstaat zu verwandeln, das war über lange Zeit undenkbar. Kommt Putin mit dieser Aggression durch, wird das eine Phase grosser Unsicherheit zur Folge haben. Denn Putin wird jede Schwäche nutzen. Nur vor Stärke hat er Respekt. Der Angriffskrieg fegt die bisherige Sicherheitsarchitektur in Europa vom Tisch, wenn klar wird, dass Grenzen militärisch verschoben werden können. Das wird Nachahmer finden. Ja, wir haben eine Zeitenwende. Die europäischen Staaten haben zusammen mit den USA in der ersten Zeit auch für Putin überraschen stark reagiert. Aber leider ist ungewiss, wie lange die nötige Einigkeit in dieser Frage anhält und wie ausdauernd die Unterstützung bleiben wird.
Und die Zeitenwende in der Schweiz?
In der Schweiz scheint diese Zeitenwende noch nicht wirklich angekommen zu sein. In weiten Kreisen scheint die Vorstellung zu herrschen, wir seien von diesem Konflikt nicht betroffen. Das ist eine Täuschung. Russland strebt unverkennbar nach Dominanz auf dem europäischen Kontinent. Russland betreibt seit Jahren die Destabilisierung westlicher Demokratien durch Wahleinmischung, Propaganda und Unterstützung rechtsextremer Parteien. Der Kreml setzt auf einen erneuten Wahlsieg Donald Trumps, der in einer zweiten Amtszeit den Rückzug US-amerikanischer Truppen aus Europa und den Ausstieg aus der NATO betreiben könnte. Eine geschwächte EU und eine Rest-NATO könnten einer wieder aufgerüsteten russischen Armee nicht viel entgegensetzen.
Die Schweiz profitiert in dieser Lage von der NATO, denn ihre Armee wäre auf sich allein gestellt nicht in der Lage, das Land zu verteidigen.
Wir stehen in einer sich verschärfenden Auseinandersetzung zwischen autoritären bis totalitären Staaten (Russland, China) und den Demokratien insbesondere in Europa, den USA, Japan und Australien. Die Schweiz kann zwar formal an ihrer Neutralität festhalten, müsste sich aber entschiedener an die Seite der angegriffenen Ukraine stellen und in der Unterstützung konsequenter mit den westlichen Unterstützern dieses Landes kooperieren.
Wenn die Schweiz die Zeitenwende ernst nimmt, wir sie auch nicht umhinkommen, ihre Verteidigungsausgeben prägnant zu erhöhen. Sie kann in dieser Situation nicht nur Trittbrettfahrer der NATO sein.
Weil uns mit grosser Wahrscheinlichkeit unsicherere Zeiten bevorstehen, braucht es auch Strategien, um die Resilienz dieser Gesellschaft und die Widerstandsfähigkeit gegen Propaganda und Desinformation sicherzustellen.
Nein, die Schweiz ist nicht genug gerüstet für die Zeitenwende.
Siehe auch:
Viele Herausforderungen für westliche Demokratien – packen wir das?
Irredentismus in Putin’s Russland als Grundlage für Aggression