Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen. Ob aus dieser Erkenntnis auch die notwendigen Konsequenzen und der angemessenen Geschwindigkeit gezogen werden, ist allerdings fraglich. Für die Schweiz lässt sich allerdings feststellen, dass sie die «Zeitenwende» komplett verpennt.
Haben wir überhaupt eine «Zeitenwende»?
Für den europäischen Kontinent lässt sich diese Frage eindeutig mit «Ja» beantworten. Ein grosser Angriffskrieg auf ein Nachbarland ist ein krasser Bruch mit völkerrechtlichen Normen, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa als sakrosankt gegolten haben. Das betrifft auch die Schweiz als demokratischer Kleinstaat mitten in Europa in vielerlei Hinsicht. Es sieht aber nicht ansatzweise danach aus, als ob diese Zeitenwende in der Schweiz angekommen wäre.
Die Schweiz hat nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Armee aus nachvollziehbaren Gründen verkleinert und abgerüstet. Diese Armee ist heute nicht ansatzweise in der Lage, das Land souverän zu verteidigen. Sie profitiert vom Schutz der NATO. Sie ist ein sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer. Diese Fakten blenden die Verteidiger einer äusserst eng gefassten Neutralität, die sich vor allem in der SVP finden, komplett aus.
Auch mit einer massiven Steigerung der Verteidigungsausgaben wäre die Schweiz nicht in der Lage, nur schon einen unabhängigen und zugleich wirksamen Schutzschirm gegen Angriffe durch Raketen, Marschflugkörper und Drohen aufzubauen.
Es liegt sehr im Interesse der Schweiz, wenn Russland mit seinen imperialistischen Ambitionen in der Ukraine Grenzen gesetzt werden. Dazu muss die Ukraine als unabhängiger Staat stabil bleiben. Sie braucht deshalb die konsequente Unterstützung aller demokratischer Staaten – finanziell, Wirtschaftlich, Humanitär, militärisch.
Welche Konsequenzen sollte die Schweiz aus der «Zeitenwende» ziehen?
Die Schweiz braucht eine ernsthafte Diskussion über die Konsequenzen, die das Land aus der «Zeitenwende» ziehen muss.
Dazu gehören zum Beispiel folgende Punkte:
☛ Die Schweiz muss ihre Neutralität nicht aufgeben, sie aber zügig in eine zeitgemässe Form bringen.
☛ eine angemessene Erhörung der Verteidigungsausgaben ist unumgänglich.
☛ Wo immer möglich, ist eine Kooperation mit der NATO anzustreben.
☛ Die Schweiz wird unter den heutigen Bedingungen keine Waffen direkt an die Ukraine liefern. Sie sollte aber die Weitergabe von Munition und Waffen, die in der Schweiz produzierter und an demokratische Länder verkauft wurden erlauben, wenn damit ein angegriffenes, demokratisches Land wie die Ukraine in seiner Verteidigung unterstützt wird.
☛ Darüber hinaus sollte sich die Schweiz in dieser «Zeitenwende» maximal solidarisch zeigen und damit diejenigen Länder, die militärische Unterstützung für die Ukraine leisten, entlasten. Dazu gehören sehr deutlich erhöhte humanitäre Hilfeleistungen (z. B. Unterstützung bei der Instandstellung zerstörter Infrastruktur, Minenräumung).
☛ Schlupflöcher für russische Oligarchen und ihre in der Schweiz parkierten Raubgelder sind konsequent zu stopfen.
Ergänzend:
☛ Sieh ebenso:: Die Ukraine kämpft auch für europäische Demokratien
☛ Der «Zeidgenosse» hat in einem sehenswerten YouTube-Video den gegenwärtigen Umgang der Schweiz mit dem Begriff der «Neutralität» kritisiert. Er liefert damit gute Inputs für die Diskussion um die „Zeitenwende“ in der Schweiz:
DIESE Neutralität braucht kein Mensch … | Zeidgeschehen:
P. S. Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Aussenpolitik an der Universität Köln schreibt auf Twitter:
„Zur mentalen Zeitenwende gehört auch, zu erkennen, dass Russland bestimmenden Einfluss über Europa erlangen will. Das liegt nicht im deutschen Interesse. Wer Russland propagandistisch unterstützt oder seinen Angriffskrieg relativiert, vertritt russische, nicht deutsche Interessen.“