Thomas Kessler war Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt. Im Hinblick auf angekündigte Pro-Palästina-Proteste wird er von der Gratiszeitung «20minuten» dazu befragt, wie gut die Integration von Migranten in der Schweiz laufe. Thomas Kessler wird aber auch grundsätzlicher gefragt, ob wir uns in der Schweiz Sorgen machen müssen.
Antwort Thomas Kessler:
«Die Zeiten der Idylle sind definitiv vorbei. Das hat ganz stark mit den Expansionsgelüsten von Russland, China, dem Iran zu tun. Gaza ist nur ein Element des Problems. Wir erleben weltweit eine Militarisierung. Wir müssen uns auf grundsätzlicher Ebene Sorgen machen, unsere Polizeien, Nachrichtendienste und das Militär fit machen. Diese sind noch viel zu wenig fit für die Herausforderungen, die kommen werden.»
Diese Einschätzung dürfte realistisch sein. Fraglich ist aber, wie viele Politikerinnen und Politiker den Ernst der Lage erkannt haben. Darüber hinaus muss auch gesagt werden, dass dieses Fitmachen nicht nur Polizei, Nachrichtendienste und Militär betreffen darf. Notwendig ist auch ein Fitmachen der Demokratie generell. Dazu sind alle Bürgerinnen und Bürger gefragt und auch bei ihnen ist fraglich, wie gross der Anteil ist, der den Ernst der Lage erkannt hat. Weit verbreitet ist doch inzwischen ein Rückzug ins Private, insbesondere bei der sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Hochgradig engagiert sind dagegen ausgerechnet die Extremisten am rechten und linken Rand, Islamisten sowie Verschwörungsgläubige aller Art. Es braucht eine Aktivierung der Nicht-Extremisten. Demokratinnen und Demokraten sollten sich vorausschauend besser vernetzten und zivilgesellschaftliche Organisationen stärken, die für die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat stehen. Dazu wäre es auch sinnvoll, demokratisch gesinnte politische Parteien finanziell und/oder durch Mitarbeit zu fördern.
Buchtipps:
Yascha Mounk zum „Zerfall der Demokratie» (Buchbesprechung und Zitate)
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: «Wie Demokratien sterben» (Buchbesprechung und Zitate)
Thomas Kessler zu Migration und Integration
Thomas Kessler wird von «20minuten» auch gefragt, weshalb es in der Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern bisher keine eskalierenden Pro-Palästina-Kundgebungen gab:
«Entscheidend sind zwei Faktoren: die Herkunft der Demonstrierenden und wie stark Parallelgesellschaften ausgeprägt sind. Es sind hauptsächlich Menschen mit palästinensischer Abstammung und aus dem Maghreb, welche diese Demonstrationen prägen. Diese Menschen sind bei uns weniger vertreten. Bei uns leben hingegen mehr Leute aus Anatolien, Afghanistan, aus dem Iran und Irak oder aus Syrien. Viele von ihnen sind vor den Islamisten geflüchtet und stehen deshalb den Terrormilizen Hamas und Hisbollah sehr kritisch gegenüber. Die Zusammensetzung und auch die Haltung der Leute ist bei uns viel heterogener.»
Auf die Frage, ob die Integration von Migranten in der Schweiz also viel besser funktioniert, antwortet der ehemalige Integrationsbeauftrage Thomas Kessler:
«Ja. Die jüngeren Menschen, die zu uns kommen, aus dem Nahen Osten oder aus dem Maghreb, haben einen steileren sozialen Aufstieg. Das heisst: Sie haben schneller Zugang zu einer Berufslehre oder zu einem Studium. Durch diese Integration lernen sie, demokratisch zu differenzieren, sie sehen Vor- und Nachteile der Gegenpositionen. Wenn man differenziert denkt, dann kann man nicht an eine Demo, wo extremistische oder faschistische Positionen vertreten werden. Was passiert ist, ist reinster Terror.»
Auch diese Einschätzung dürfte im Vergleich zu vielen anderen Ländern stimmen. Dieser Erfolg ist aber kein Naturgesetz für alle Zeiten. Politik und Bevölkerung in der Schweiz müssen ihm Sorge tragen. Dazu gehört, dass keine Parallelgesellschaften entstehen dürfen und dass religiösen Fanatikern in Moscheen kein Spielraum gewährt wird.
Quelle der Zitate:
Hamas-Aufruf: Pro-Palästina-Demos in ganz Europa – warum nicht in der Schweiz? (20Minuten)