Der Historiker Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University, USA. Zu seinen Schwerpunkten zählen Osteuropäische Geschichte und Holocaustforschung. Im Interview mit der TAZ spricht Timothy Snyder auch über die politische Entwicklung in Russland. Er hat Russland zuvor als ein faschistisches Land bezeichnet. Andere Historiker haben dieser Einschätzung widersprochen. Es gebe in Russland keine Massenbewegung, die frenetisch einen Führer trägt, und die für faschistische Staaten typisch sei. Die meisten Russen würden sich einfach nur bedeckt halten und passiv bleiben.
Timothy Snyder sagt dazu:
«Vor dem großen Angriffskrieg war ich mit der Formulierung noch vorsichtig. Ich habe von den Zügen einer faschistischen Ideologie gesprochen. Es gibt in der russischen Öffentlichkeit wichtige Stimmen, die eindeutig faschistisch sind. Putin selbst zitiert immer wieder Iwan Iljin, einen klassischen christlichen Faschisten. In der Tat fehlte das Moment der Massenmobilisierung. Wie sich das mit dem Krieg verändert hat, ist schwer zu sagen.
Dafür wissen wir zu wenig, was im Land vorgeht. Aber es gibt eigentlich nur eine Partei, einen Führerkult, ein Propagandamonopol und eine Tendenz, die Welt im Sinne einer Verschwörung zu interpretieren. Der Krieg selbst ist auch ein Indiz. Es geht darum, eine andere Gesellschaft zu zerstören. Putin will außerdem zeigen, dass das internationale Rechtssystem nur eine Farce ist und es letztlich nur um Macht geht.»
Quelle:
Timothy Snyder über Ukraine-Krieg: „Russland ist am Limit, wir nicht“ (TAZ)
Anmerkungen:
☛ Timothy Snyder kennt sich in der Geschichte und Gegenwart Russlands aus. Er warnt schon seit längerem vor den aufkommenden Autokraten wie Wladimir Putin und Donald Trump.
☛ Ob man Russland bereits als faschistischen Staat bezeichnet wie Timothy Snyder oder zum Beispiel auf die fehlende Massenmobilisierung hinweist, mag eine Diskussion unter Historikern sein. Tatsache ist, dass das Kreml-Regime zunehmend totalitäre Züge zeigt.
Siehe dazu:
Putinismus – Ideologie und Verschwörungstheorien
Herta Müller bringt Wladimir Putin auf den Punkt
☛ Es stellt sich die Frage, ob sich die Eliten und die breite Bevölkerung in den westlichen Demokratien dem Ernst der Lage bewusst sind:
Kommt die «Zeitenwende» in der Schweiz an?
Russlands Angriff auf Europa verstehen
Viele Herausforderungen für westliche Demokratien – packen wir das?
Carlo Masala über demokratische Wehrhaftigkeit
«Wir sind nicht klüger als die Menschen, die erlebt haben, wie überall in Europa die Demokratie unterging und Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus kamen, aber einen Vorteil haben wir. Wir können aus ihren Erfahrungen lernen.»
Timothy Snyder, Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand, C.H.Beck Verlag 2017.