Vor etwa zehn Jahren veröffentlichten holländische Wissenschaftler zwei neue, viel beachtete Studien, das sogenannte Dutch-Protocol. Es ging dabei um einen neuen Therapieansatz für Menschen, die sich von Kind an im falschen Körper fühlten.
Das Dutch-Protocol schlug vor, für solche Patienten, die Pubertät in einer frühen Phase mit sogenannten Pubertätsblockern zu stoppen. Dadurch sollte erreicht werden, dass sich die Geschlechtsmerkmale nicht entwickeln und diese Menschen später besser gemäss ihrem gefühlten Geschlecht leben können. Dieses neue Behandlungsmodell wurde in der westlichen Welt enthusiastisch begrüsst, auch von vielen Wissenschaftlern und anderen Menschen, die mit solchen Jugendlichen arbeiteten. Und das auch in der Schweiz, zum Beispiel an den Universitätskliniken Zürich und Basel.
Die finnische Psychiaterin Riittakerttu Kaltiala half mit, das Dutch-Protocol für Transjugendliche zu etablieren. Inzwischen warnt sie davor.
In einem Interview mit Michèle Binswanger in der «Sonntagszeitung» begründet Riittakerttu Kaltiala ihre Kritik. Der Enthusiasmus mit dem neuen Behandlungsprotokoll sei ausser Kontrolle geraten und es sei unkritisch einfach übernommen worden:
«Es wäre wichtig gewesen, die Resultate des Dutch-Protocols unter strengen Bedingungen zu verifizieren. Aber das ist nicht passiert.»
Das Dutch-Protocol wurde unkritisch etabliert
Auf die Frage, weshalb es plötzlich so viele junge Menschen gebe, die glauben, im falschen Körper geboren zu sein, sagt Riittakerttu Kaltiala:
«Wenn eine Behandlung angeboten wird, dann wird sie auch in Anspruch genommen. Das Angebot bestimmt immer auch die Nachfrage. Der Enthusiasmus über das Thema und die Lobbyarbeit von Aktivisten führte zu einem politischen Druck, die Rechte von Transmenschen mehr in den Fokus zu rücken. Es folgte eine breite mediale Diskussion, und das Thema wurde so prominent, dass es für viele junge Menschen zur Hoffnung wurde.»
Die kulturelle Diskussion um Transidentitäten habe bei vielen die Hoffnung geweckt, dass das vielleicht die Lösung sei für die mannigfaltigen Probleme, die sich beim Heranwachsen stellen. Denn das sei eine schmerzvolle Entwicklungsphase, und die Suche nach der eigenen Identität sei ein wichtiger Teil davon. Auch die medizinische Gemeinschaft habe sich davon beeinflussen lassen und begonnen, die entsprechenden Behandlungen auf breiterer Basis zur Verfügung zu stellen.
Riittakerttu Kaltiala schildert eindrücklich, wie ihre Zweifel am Dutch-Protocol im Verlaufe der Zeit zunahmen:
«Uns fiel als Erstes auf, dass die Patienten, die zu uns kamen, nicht schon seit früher Kindheit an Gender-Dysphorie leiden, sondern dass es bei den meisten erst in der Adoleszenz einsetzte, oft auch, nachdem die körperliche Reifung schon weit fortgeschritten war.»
Die zweite Überraschung sei gewesen, dass die meisten ihrer Patientinnen – im Unterschied zum Dutch-Protocol – eine lang bestehende Geschichte psychischer Probleme hatten, unter anderem Autismus, Zwangsstörungen, Essstörungen oder sogar Psychosen.
Als nächste Überraschung beschreibt die Psychiaterin die Erkenntnis, dass die Behandlung dieser jungen Patienten mit Pubertätsblockern oder Hormonen nicht unbedingt dazu führte, dass es ihnen besser ging, jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie es das Dutch-Protocol vorsah: «Im Gegenteil schien es einigen unserer Patientinnen sogar schlechter zu gehen als vorher: Sie isolierten sich, traten aus der Schule aus oder vernachlässigten ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu den Eltern.»
Pubertätsblocker bessern psychische Probleme nicht
Riittakerttu Kaltiala vermutet inzwischen, dass die Gender-Dysphorie bei den behandelten Transjugendlichen nicht die Ursache ihrer Probleme war, sondern sich erst im Rahmen anderer psychischer Probleme zu entwickeln begann.
Das verstärkte die Zweifel, denn das Dutch-Protocol ging davon aus, dass die medizinische Behandlung der Gender-Dysphorie die anderen Probleme aufheben würde.
Riittakerttu Kaltiala kommt deshalb zum Schluss:
«Ich bin heute überzeugt, dass man mit medizinischer Geschlechtsangleichung zwar die körperlichen Merkmale beeinflussen kann. Aber man sollte nicht erwarten, dass damit auch die psychischen Probleme verschwinden.»
Quelle:
Interview mit Gender-Expertin «Mädchen können es heute nie richtig machen» (Sonntagszeitung)
Anmerkungen:
Vielleicht sind Pubertätsblocker in manchen Situationen für Transjugendliche sinnvoll. Der unkritische Umgang damit – auch am Universitätsspital Zürich und am Universitätsspital Basel – ist aber ein Skandal.
Tatsache ist:
☛ Pubertätsblocker haben für den Anwendungsbereich «Geschlechtsanpassungen» keine offizielle Zulassung. Die Anwendung erfolgt «Off-Label». Die staatlichen Arzneimittelbehörden übernehmen keine Verantwortung.
☛ Die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Behandlungen nach dem Dutch-Protocol ist nicht wissenschaftlich belegt. Aus diesem Grund haben die Gesundheitsbehörden von Grossbritannien, Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden die Behandlungen bei Minderjährigen mit Pubertätsblockern massiv eingeschränkt, verboten oder lassen sie nur noch im Rahmen von streng kontrollierten Studien zu. Für das Vorgehen in der Schweiz scheint dies keine Folgen zu haben.
☛ In Grossbritannien kam es nach Klagen von Betroffenen und einem Untersuchungsbericht zur Schliessung der zentralen Klinik für Geschlechtsanpassungen, die nach dem Dutch-Protocol arbeitete (Tavistock-Skandal). Auch diese Erkenntnisse scheinen in der Schweiz ignoriert zu werden.
☛ Transmenschen sollen selbstverständlich wie alle Menschen so leben können wie sie wollen. Die Freiheit von Transmenschen kann wie bei allen Menschen allenfalls dort eingeschränkt werden, wo die Freiheit oder wesentliche Interessen von anderen Menschen beeinträchtigt werden. Der Transaktivismus hingegen zeigt pseudoreligiöse Züge und ist wohl nur verständlich als Teil einer aus dem Ruder gelaufenen Identitätspolitik. Daher ist er gesellschaftspolitisch relevant. Siehe dazu:
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
☛ Die Medien in der Schweiz und in Deutschland berichten sehr unkritisch über dieses Thema. Ein Tiefpunkt ist dabei ein manipulativer und demagogischer Beitrag in der «Wochenzeitung» (WOZ). Eine detaillierte Darstellung und Kritik dieses Artikels ist hier zu finden:
Wochenzeitung (WoZ): Bericht zur Transgender-Medizin mit krasser Schlagseite
Dort sind auch Links aufgeführt zu den Empfehlungen der Gesundheitsbehörden von Grossbritannien, Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden und zum Tavistock-Skandal.