Identitätspolitik scheint auf den ersten Blick nichts mit Religion zu tun zu haben. Aber stimmt das wirklich?
Identitätspolitik zeigt sich heute vor allem im Streit um das «Gendern» oder in Diskussionen rund um Begriffe wie «Transaktivismus», «Antirassismus» oder «Kulturelle Aneignung» Identitätspolitik geht aber weit darüber hinaus und hat ihre Wurzeln in postmodernen Theorien, die in vielerlei Hinsicht zur Unterminierung von Demokratie und Wissenschaft beitragen können.
Siehe dazu:
Identitätspolitik lässt sich zwar nicht so einfach mit Religion gleichsetzen, doch zeigt sich in ihr eine Reihe von Aspekten, die auch im Bereich der Religion zu finden sind. Darüber nachzudenken ist wichtig und sinnvoll, kommt die Identitätspolitik doch oft in einem ziemlich wissenschaftlichen Gewand daher und hat sich auch an Universitäten etabliert.
Dabei ist allerdings im Auge zu behalten, dass sowohl Identitätspolitik als auch Religion in unterschiedlichen Ausprägungen und Formen vorkommt. In Folge dessen zeigen sich gemeinsame Aspekte nicht in jeder Situation und nicht im selben Ausmass.
Wo trifft sich Identitätspolitik mit Religion?
Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins ist in einem Text auf die Frage eingegangen, ob «Woke» eine neue Religion sei. Weil sich «Woke» in diesem Kontext mehr oder weniger mit Identitätspolitik gleichsetzen lässt, sind seine Antworten auch für den Zusammenhang von Identitätspolitik und Religion interessant.
Dawkins beantwortet die Frage mit «Nein», wenn man den Begriff der Religion um den Begriff des Übernatürlichen erweitere. Er führt dann aber drei Gemeinsamkeit auf, die er für ausreichend hält, die Frage doch mit «Ja» zu beantworten. Die erste der drei Gemeinsamkeiten sei charakteristisch für Religionen im Allgemeinen. Die beiden anderen seien mit dem Christentum im Besonderen verwandt.
Was sind also die drei Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Woke / Identitätspolitik nach Richard Dawkins?
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Ketzerjagd in Religion und Identitätspolitik
Ketzerjagd praktizieren heute nicht mehr alle Religionen, aber immer noch werden Menschen umgebracht, weil sie sich religionskritisch äussern. Im Bereich der Identitätspolitik wird Ketzerjagt praktiziert in Form von intensiven Hass- und Diffamierungskampagnen in den sogenannten «sozialen Medien» oder als Cancel Culture gegen störende Personen oder Positionen. So betiteln beispielsweise radikale Transaktivisten ihre feministischen Gegnerinnen als TERF (englisch Trans-Exclusionary Radical Feminist), was oft beleidigend gemeint ist und aggressiv ausarten kann («TERFS in die Elbe!»). Ausserdem kommt in diesen Hasskampagnen grosszügig der Kampfbegriff «transphob» zum Zug, meist ohne dass genau definiert würde, was damit gemeint ist und welche Äusserungen dem Vorwurf zugrunde liegen.
Ein Beispiel ist die Kampagne gegen die Philosophin, Genderforscherin und Autorin Kathleen Stock, die wegen Hasskampagnen und Drohungen ihre Professur an der University of Sussex aufgab (siehe Buchbesprechung «Material Girls – Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist»).
Identitätspolitik braucht Sündenböcke, gegen die sie Shitstorms in den (a)sozialen Medien entfachten kann. Wer sich als Kämpferin oder Kämpfer an solchen Shitstorms beteiligt, kann dadurch zeigen, dass er oder sie auf der moralisch guten Seite steht. Diese Ketzerjagden richten sich nicht nur gegen offensichtliche Gegner, sondern ebenso gegen Leute im eigenen Lager, die auch nur minimal von der reinen «woken» Lehre abweichen. Solche Kampagnen ähneln einer Exkommunikation.
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Erbsünde in Religion und Identitätspolitik
Die christliche Erbsündenlehre geht davon aus, dass alle Menschen schon in Sünde geboren werden. Ausgehend vom Sündenfall Adam und Evas trägt jeder Mensch als Nachfahre dieser Ureltern von Geburt an diese Erbsünde in sich.
Identitätspolitik auf der Basis postkolonialer Theorien postuliert Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei als Ursünden des «Westens». Folglich tragen alle «Weissen» diese Ursünde in sich. Es ist daher nicht nötig, rassistisch zu denken oder zu handeln, um ein Rassist zu sein. Alle «Weissen» sind Rassisten als Nachfahren von Kolonialisten und Sklavenhaltern. Rassismus ist ihnen eingebrannt und steckt in jeder Faser unserer Gesellschaft (Struktureller Rassismus, Systemischer Rassismus).
Wie im Christentum kann man als «Weisser» dieser Erbsünde nicht entrinnen. Man kann sie nur anerkennen, sich entschuldigen und Busse tun (dafür gibt es spezielle identitätspolitische Antirassismus-Seminare). Im Glaubensbekenntnis der «critical race theory» heisst die Sünde «white privilege».
Fraglos sind Kolonialismus, Sklavenhandel und Rassismus sehr dunkle Punkte in der Geschichte des «Abendlandes». Allerdings blenden die identitätspolitisch aufgestellten Postkolonialen Theorien mit ihrer Fixiertheit auf den «Westen» viel aus, zum Beispiel dass Rassismus in sehr zahlreichen Kulturen vorkommt, der Sklavenhandel im grossen Stil von den Arabern erfunden und die Sklaverei weltweit im Wesentlichen von europäischen Mächten bekämpft und schliesslich abgeschafft wurde (Frankreich, Grossbritannien, US-amerikanische Nordstaaten).
Der Theologe Giuseppe Garcia zeigt in einem YouTube-Video die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der katholischen Erbsünden-Lehre und der identitätspolitischen «critical race theory» auf. Während laut der katholischen Theologie alle Menschen Träger der Erbsünde sind, betrifft die Erbsünde der «critical race theory» ausschliesslich alle Weissen. Garcia sieht als Vorteil der katholischen Erbsünden-Variante, dass alle Menschen Sünder sind. Niemand ist ohne Fehl, was vor Überheblichkeit bewahren kann. Dieser Aspekt ist interessant, auch wenn man die katholische Erbsünden-Theorie ablehnt. Der selbstgerechte Moralismus, der oft aus Positionen der «critical race theory» spricht, hängt möglichweise auch damit zusammen, dass es hier «reine» oder «geläuterte» Vertreter zu geben scheint.
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Transsubstantiation
Mit dem Begriff «Transsubstantiation» (lat. für «Wesensverwandlung») wird in der katholischen Theologie die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi während der Heiligen Messe bezeichnet.
Hintergrund ist die Unterscheidung von «Substanz» und «Akzidens», die auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.) zurückgeht. Die Substanz (altgriechisch οὐσία) ist im aristotelischen Sinne das nicht sinnlich wahrnehmbare Wesen eines Dinges an sich und hat deshalb nichts mit dem heutigen, naturwissenschaftlichen Substanzbegriff (z. B. chemischer Stoff) zu tun.
Das Akzidens bezeichnet dagegen das nicht Wesentliche (das nicht Essentielle), das sich Verändernde, das Zufällige und sinnlich wahrnehmbare. Akzidentien haften der Substanz an, gehören jedoch nicht zu deren wesentlichen oder notwendigen Bestimmungen.
Mittelalterliche Theologen haben die aristotelische Unterscheidung von Substanz und Akzidens herangezogen, um das Geschehen während der «Wandlung» in der Heiligen Messe zu beschreiben. Die Wandlung bei der Eucharistie soll eine wirkliche Wandlung des Wesens sein und nicht die sinnlich wahrnehmbaren Akzidentien betreffen. Die Akzidenzien von Brot und Wein bleiben Brot und Wein, in ihrer Substanz werden sie jedoch zu Leib und Blut.
So erscheint der «Leib Christi» auch nach der Wandlung den Sinnen weiter wie Brot, das «Blut Christi» weiter als Wein.
Aristotelisch verstanden scheint ein Fortbestehen der Akzidentien und somit der äußeren Gestalt von Brot und Wein bei Veränderung der Substanz allerdings nicht möglich, weil Akzidentien von der Substanz, an der sie auftreten, abhängen.
Richard Dawkins vergleicht die katholische Transsubstantiation prägnant mit Geschlechtsumwandlungen in der Transgender-Theorie:
“Similarly, in the cult of woke, a man speaks the magic incantation, “I am a woman”, and thereby becomes a woman in true substance, while “her” intact penis and hairy chest are mere Aristotelian accidentals. Transsexuals have transubstantiated genitals. One thing to be said in favour of (today’s) Catholics: at least they don’t (nowadays) insist that everybody else must go along with their beliefs.”
Die Zauberworte “Ich bin eine Frau», gesprochen auf einem Zivilstandsamt in der Schweiz, bewirken die «Wandlung» nun in wenigen Sekunden. Die Ähnlichkeit mit der katholischen Transsubstantiation ist frappant.
Die Ähnlichkeit zwischen katholischer Transsubstantiation und Transgender-Theorie wurzelt schon im Werk der Philosophin Judith Butler, der Ikone von Queer-Theory und Gender Studies. Sie spricht von seinsschaffenden Sprechakten. Die Philosophin Claudia Simone Dorchain bringt das in einem Youtube-Video auf den Punkt (13.31 Min.):
Macht Judith Butlers Feminismus überhaupt Sinn? – Philosophin Dr. Dorchain
Oder in Textform ebenfalls von Claudia Simone Dorchain:
Judith Butler und die Gender-Debatte (The European):
Weitere Ähnlichkeiten zwischen Identitätspolitik und Religion
Neben den drei von Richard Dawkins aufgeführten Ähnlichkeiten gibt es noch weiter Punkte, an denen sich Identitätspolitik und Religion treffen können.
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Manichäismus (Gut-Böse-Spaltung)
Nicht jede religiöse Person trennt die Welt radikal in Gut und Böse. Nicht jede Religion bewirtschaftet die Gut-Böse-Spaltung gleich stark. Doch ist diese Spaltung in vielen religiösen Strömungen vorhanden und reicht historisch weit zurück. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist der Manichäismus, eine Offenbarungsreligion der Spätantike und des frühen Mittelalters. Der Kampf zwischen Gut und Böse gehört zum Kern des Manichäismus. Vor allem in fundamentalistisch-religiösen Kreisen lebt die manichäisch geprägte Vorstellung vom immer währenden Kampf zwischen Gott und dem Teufel fort.
In der Gegenwart wird der Begriff «Manichäismus» häufig verwendet, um Ideologien zu kennzeichnen, die die Welt ohne Zwischentöne in Gut und Böse einteilen, wobei sie den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisieren.
Die Identitätspolitik kennt solche Spaltungen ebenfalls und treibt sie sogar oft noch weiter: Die Gesellschaft wird geteilt in eine böse, weil rassistische, sexistische, heteronormative Mehrheitsgesellschaft, und gute Minderheiten mit Opferstatus. Die Mehrheitsgesellschaft wird zusätzlich unterteilt in jene Menschen, die einsichtig sind bezüglich ihres «white privilege» und dafür Busse tun, und jene, die uneinsichtig sind. Die Minderheit wird unterteilt in verschiedene Opferkategorien, die je nach dem Mass der Unterdrückung in eine Opferhierarchie eingereiht werden.
Solche Spaltungen fördern ein problematisches «Stammesdenken» (Tribalismus) und sind hinderlich für ein gedeihliches Funktionieren von demokratischen Gesellschaften.
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Erwähltheit
Nicht jede religiöse Person fühlt sich erwählt. Aber die Vorstellung der eigenen Erwähltheit kommt in religiösen Kontexten ziemlich häufig vor und ist historische sehr alt. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist die Gnosis. Religionswissenschaftlich bezeichnet man als Gnosis, Gnostik oder Gnostizismus christlich geprägte religiöse Bewegungen aus dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. Die Gnosis liefert nicht nur eine dualistische Welterklärung (Kosmologie), sondern auch eine dualistische Anthropologie (Lehre vom Menschen). Die Gnostiker teilten die Menschen auf in «Pneumatiker» (Geistmenschen), das sind die Erleuchteten, Wissenden, also sie selbst, und in die Nicht-Erleuchteten. Auf die Nicht-Erleuchteten «Psychiker» («Seelenmenschen») und «Hyliker» («Stoffmenschen») schauten die «Pneumatiker» ziemlich arrogant herab. Die Priesterkaste der Wissenden («Pneumatiker») zeichnet sich zudem aus durch einen ausgeprägten Missionierungsdrang. Von Erweckungserlebnissen ist bis heute in evangelikalen Kreisen die Rede.
Auch die Identitätspolitik kennt die Erwählten, Erwachten («Woken»), die das System durchschaut haben, und die Nicht-Erleuchteten, die noch im Dunkeln sitzen. Und wie in religiösen Systemen entwickeln die Erwählten einen starken Missionierungsdrang und bringen ihre gute Botschaft mit Schriften, Antirassismus-Trainings, YouTube-Videos etc. zu den Unwissenden. Hier gibt es auch Ähnlichkeiten zu Verschwörungsgläubigen, die sich gern als «Aufgewachte» sehen, im Gegensatz zu den «Schlafschafen», welche das «Redpilling» noch nicht hinter sich haben.
Zur Erwähltheit passt auch eine elitäre Sprache, die nur Eingeweihte verstehen (BIPoC, LGBTQI+…). Auch die theoretischen Arbeiten auf dem Boden der Identitätspolitik, die wissenschaftlich daher kommen, zeichnen sich durch ein ausserordentlich hohes Mass an Jargon aus. Das steht in krassem Gegensatz dazu, dass die „Woken“ gern von Inklusion reden – während sie sprachlich Exklusion betreiben. Starke Beispiele für diesen Eingeweihten-Stil finden sich bei Judith Butler, der Ikone der Gender-Theorie. Das alles erinnert eher an eine Priesterkaste. Dazu passen die typischen Belehrungen von oben, wenn identitätspolitische Akteure Argumente liefern sollten, aber keine haben („Bilde dich weiter“).
Der Sprachwissenschaftler John McWhorter – selbst ein Schwarzer – hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Erwählten„. Darin beschreibt er , wie der neue, identitätspolitisch geprägte Antirassismus zur Religion wurde, und wie der damit verbundene „Erwähltismus“ Schwarzen schadet. McWhorter unterscheidet drei Wellen des Antirassismus: „Die erste Welle kämpfte gegen die Sklaverei und die gesetzlich verordnete Rassentrennung. Die zweite Welle, während der 1970er und 1980er Jahre, kämpfte gegen rassistische Einstellungen und brachte Amerika und der Welt bei, dass Rassismus ein moralischer Makel ist. Der in den 2010er Jahren zum Mainstream gewordene Third-Wave-Antirassismus lehrt und, dass Rassismus fest mit den gesellschaftlichen Strukturen verquickt ist.“ Diese drotte Welle habe unter dem Stichwort Critical Whiteness eine religiös anmutende Irrationalität hervorgebracht. Sie verliere sich in unbelegten Thesen, wonach Weisse notwendig in eine Komplizenschaft mit rassistischen Strukturen verstrickt seien, während die Existenz schwarzer Menschen komplett von rassistischer Unterdrückung bestimmt werde. Bei diesen vollständig unbewiesenen Thesen handle es sich um religiöse Glaubenssätze, die neben einer Art Erweckungsbewegung auch eine Priesterkaste und eine Inquisition hervorgebracht habe.
Bei den „Erwählten“, die John McWhorter beschreibt, lassen sich durchaus Gemeinsamkeiten finden zu (christlichen) Gnostikern des zweiten und dritten Jahrhunderts, die auch glaubten, über ein Wissen zu verfügen, das sie über andere Menschen erhob.
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Absolute Wahrheitsinstanzen
In vielen Varianten der Religion gibt es einen Gott als absolute Quelle von Wissen und Wahrheit. Am Dogma zerschellt jede Notwendigkeit einer Begründung.
Die Identitätspolitik verlegt diese Instanz oft ins Innere des Menschen. Unhinterfragbare Quellen für Wahrheit und Wissen werden dann innere Gefühle oder Erlebniszustände.
Der Psychologe Tilmann Betsch schreibt dazu in seinem Buch «Science matters!»:
«Bei identitätsbegründeten Diskursen wird Gott durch das Individuum und dessen inneren Erlebniszustand ersetzt. Jedes Individuum wird damit ermächtigt, sich zum Polizisten über die Gedankenwelt anderer zu erheben. Was prompt in die Falle des Dogmas führt.»
(Seite 98/99)
Gefühle werden zum unhinterfragbaren Dogma. Argumente spielen kaum noch eine Rolle. Meinungsverschiedenheiten werden nicht selten umgewandelt in moralische Kategorien von Gut und Böse. Das Gegenüber ist nicht einfach anderer Meinung, sondern moralisch schlecht. Betsch schreibt dazu allerdings:
«Dogmatische Anmassung lässt sich nicht durch moralischen Anspruch heilen.»
Fühlt sich ein biologischer Mann als Frau, dann ist er eine Frau. Und niemand hat das in Frage zu stellen. Fühlt sich eine Person, die einer Minderheit angehört, durch ein Wort oder eine «Mikroaggression» verletzt, so ist das immer ein Übergriff, weil das Gefühl dieser Person immer Recht hat. Der Kontext spielt dabei keine Rolle. Es kann sich zum Beispiel auch nicht um ein Missverständnis oder eine Fehleinschätzung handeln.
Der Schwarze US-Autor John McWhorter schreibt dazu in seinem Buch «Die Erwählten – Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet»:
«Es bleibt die Frage, ob es nicht doch möglich sein könnte, dass es auch Schwarzen Menschen passiert, Rassismus fälschlicherweise als Ursache für ein Problem auszumachen. Könnte es nicht hin und wieder sein, dass eine Schwarze Person etwas als rassistisch versteht, dann über ihr Missverständnis aufgeklärt wird, daraufhin ‘Ah, alles klar, tut mir leid’ sagt und einfach weitergeht? Uns aber wird beigebracht, ein ‘Du musst respektieren, wie ich mich fühle’ klaglos zu akzeptieren und damit zu unterschreiben, dass dieses Gefühl nur aus rassistischer Misshandlung entstehen kann. Aber…Und jetzt wappnen Sie sich für das, was gesagt sein muss. Es ist, offen gestanden, besser, wenn es von einem Schwarzen Menschen wie mir gesagt wird:
Wie so oft beruht das, was ein Mensch ‘fühlt’, auf dem, was zu ‘fühlen’ ihm beigebracht wurde. Es ist ein Paradigma, das ihn lehrt, dieses ‘Gefühl’ zu übertreiben, beziehungsweise es sogar künstlich zu erzeugen. Anders gesagt: Viel zu oft ist eine Person, die uns sagt, wir müssten anerkennen und uns danach richten, wie sie sich ‘fühlt’, vorher quasi gecoacht worden.» (Seiten 220/221)
7. Reinheitsphantasien
Die Gegenüberstellung von Reinheit und Unreinheit ist ein zentraler Bestandteil vieler Religionen. Damit können detaillierte Verhaltensregeln und Speisevorschriften verbunden sind, um Unreinheit zu vermeiden. Bei den Katharern (wörtlich ‚die Reinen‘) die vom 12. bis zum 14. Jahrhundert vor allem im Süden Frankreichs sowie in Italien, Spanien und Deutschland verbreitet waren, steht die Reinheit schon im Namen.Im Kontext von Wokeness & Identitätspolitik gibt es eine Vielzahl von Bestrebungen, um den öffentlichen Raum von Unerwünschtem, Störendem, oder von Vermischungen reinzuhalten. So gibt es eine immer länger werdende Liste von Wörtern, die nicht verwendet werden dürfen. Triggerwarnungen und Safe Spaces ermöglichen es, Herausforderungen auszuweichen und Widersprechendem aus dem Weg zu gehen.
Cancel Culture führt dazu, dass als feindlich markierte Stimmen aus dem öffentlichen Raum gedrängt werden – zum Beispiel wenn ein Vortrag wegen Drohungen nicht stattfinden kann.
Auch «Kulturelle Aneignung» kann Reinheitsvorstellungen fördern, indem sie Vermischung von Kulturen tabuisiert. Du darfst als Deutscher keinen Sombrero tragen oder Bami-Goreng anbieten, dein Kind darf nicht im Indianerkostüm an den Fasching, und Dreadlooks gehen gar nicht. Hier kann eine irritierende Nähe zu rechtsextremen, ethnopluralistischen Ideen entstehen, denen es um völkische Reinheit geht.
Reinheitsphantasien sind nicht nur für manche religiöse Strömungen charakteristisch, sondern auch für viele Extremisten.
8. Schuld, Scham, Buss- und Läuterungsrituale
Passend zur «Erbsünden-Theorie» bewirtschaftet die Identitätstheorie die Themen Schuld und Scham – und damit auch Buss- und Läuterungsrituale.
Jan Feddersen und Philipp Gessler schreiben dazu in ihrem Buch «Kampf der Identitäten»:
«Es ist im Kern die Schuld, weiss zu sein oder irgendwelche anderen Merkmale aufweisen, die mit einem Privileg verbunden sein sollen. Diese Schuld ist in manchen Spielarten der Identitätspolitik wie ‘Critical Whiteness’ prinzipiell untilgbar. Weisse sind quasi mit rassistischem Geburtsschaden zur Welt gekommen, und an diesem Fehler haben sie gefälligst zu tragen. Der afroamerikanische Linguistik-Professor John McWhorter sieht hier eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen der Bibel und dem Buch White Fragility von Robin DiAngelo, insofern auch darin die Idee der Ursünde stecke. Die Ursünde, die nicht wirklich aus der Welt zu schaffen sei.»
Und weiter:
«Wann immer man ins Fadenkreuz identitätspolitischer Aktivist*innen geraten ist, reicht eine Geste wie mit dem Wort ‘Entschuldigung’ nicht, vielmehr muss eine untertänige Geste mitformuliert sein: ‘Danke, dass ich mich entschuldigen darf.’ Denn es gibt eine Schuld, die ist so gross, dass ein fluffiges ‘Sorry, war wirklich nicht so gemeint’ eher schon als Beleidigung und Beschönigung der Sünde verstanden wird denn als ein Wort des Bedauerns.» (Seite 166)
In den USA werden solche Entschuldigungen und Unterwerfungen manchmal ritualisiert in Antirassismus-Workshops durchgeführt oder wenn Sportler niederknien, um ihre Unterstützung für Schwarze zu bezeugen. Es gibt aber auch konkrete Situationen, bei denen es manchmal aus Sicht von Nicht-Woken um Kleinigkeiten handelt. So hat zum Beispiel eine Politikerin der Grünen in Deutschland einmal in der Öffentlichkeit von ihrem Kindheitstraum erzählt hat, dass sie gerne Indianerhäuptling werden wollte. Und weil Indianer auf der Liste der verbotenen Wörter steht, war der Shitstorm gross. Sie entschuldigte sich entsprechend nachdrücklich und sprach von «unreflektierten Kindheitserinnerungen». Manchmal werden solche Selbstbezichtigungen unterstrichen mit der Aussage, man sei sehr dankbar für die Chance, mehr über die eigenen Fehler, das eigene bisherige Unwissen und das eigene Versagen lernen zu können.
In drastischeren Fällen ähneln solche Selbstbezichtigungen stalinistischen Schauprozessen (ohne die Todesurteile) oder Selbstbezichtigungsritualen in den K-Gruppen der Siebzigerjahre. Man muss sich quasi in den Staub werfen zur Läuterung.
Mit der Bewirtschaftung von Scham und Schuld bauen identitätspolitische Akteure moralischen Druck auf, um ihre politischen Ziele durchzusetzen.
9. Dualismus
Die Idee des Dualismus besteht in der Vorstellung, dass der Geist oder die Seele des Menschen getrennt vom Körper existieren könne. Diese Idee ist Bestandteil zahlreicher Religionen. Denn sie ist eine Voraussetzung für die Vorstellung, dass wir nach dem Tod weiter existieren in Form einer immateriellen Seele. Sie ist auch Voraussetzung für die Vorstellung, dass Wesen existieren können, die Geist ohne Körper sind – also zu Beispiel Dämonen, Elfen, Götter.
Dualistische Vorstellungen sind also eng mit religiösen Vorstellungen verknüpft. Dualismus spielt nicht in allen Bereichen der Identitätspolitik eine Rolle, im Transaktivismus allerdings schon. Die Überzeugung, ein Mensch könne im falschen Körper geboren werden, ist sehr dualistisch. Da gibt es einen Körper, und irgend etwas Immaterielles wie eine Gender-Seele, die in einen Körper einfährt, und dabei den falschen Körper erwischen kann.
10. Moralismus
Der Duden kennt den Begriff «Moralismus» in zwei Bedeutungen:
Erstens: Eine Haltung, die die als verbindliche Grundlage des zwischenmenschlichen Verhaltens anerkennt.
Zweitens: Die übertreibende Beurteilung der Moral als alleiniger Maßstab für das zwischenmenschliche Verhalten.
Moralismus als übertreibende Beurteilung der Moral ist zu mindestens Bestandteil einiger Religionen, kommt aber auch stark in vielen Varianten der Identitätspolitik zum Ausdruck.
Wer die rigiden Regeln der Identitätspolitik einhält – zum Beispiel verbotene Wörter meidet und sprachlich korrekt gendert – kann sich als moralisch besserer Mensch fühlen. Diese Position ist billig zu haben, handelt es sich bei diesen moralischen «Taten» überwiegend um Symbolpolitik, die kaum Kosten in Sinn von Geld, Zeit, Engagement erfordert. Wir haben es also mit «billigen Signalen» zu tun.
James Bartholomew hat für diese Art der symbolischen, aber oft wirkungslosen Demonstration von Moral den Begriff «Virtue Signalling» geprägt. Der britische Journalist argumentiert, dass solche Handlungen es Menschen ermöglichen, sich selbst in günstigerem Licht zu sehen, ohne real nennenswerte Taten zu vollbringen. Nur schon wer die richtigen Post auf Social-Media liked und sich an einem scheinbar gerechten Shitstorm im Netz beteiligt, kann sich als moralisch überlegen fühlen. Echte Hilfsaktionen oder reales politisches Engagement würden dagegen Ausdauer und persönlichen Einsatz verlangen.
Im Kontext der Identitätspolitik – wei auch der Religion – dient Moralismus oft auch der moralischen Diffamierung Andersdenkender. Der moralisierende Gestus ersetzt dann die fehlenden Argumente.
Siehe zum Thema Moralismus auch:
☛ Moralismus, politischer
☛ Buchtipp: «Moralspektakel – Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht», von Philipp Hübl, Siedler Verlag 2024. Buchbesprechung und Zitate.
11. Missionierungsdrang und Predigen im Dauermodus
Identitätspolitische Akteure zeigen oft einen ausgeprägten Missionierungsdrang. Durch permanentes Predigen gehen sie der «Mehrheitsgesellschaft» und oft auch ihren noch nicht erwachten Bekannten und Freunden auf den Wecker. Der Missionierungsdrang und die Neigung zum Predigen zeigen sich aber nicht so, wie wir es von religiösen Gemeinschaften wie den Zeugen Jehovas kennen (Hausbesuche, Traktate auf der Strasse anbieten). Sie sind viel zeitgemässer und manifestieren sich sehr gern durch permanente Selbstinszenierungen in traditionellen und sozialen Medien, wie das vor allem für den «Transaktivismus» charakteristisch ist, und in seinem penetranten Übermass inzwischen vielen Leuten auf den Geist geht.
Auch gegen innen wird in den identitätspolitischen Szenen ausgiebig gepredigt, weil das den Status in der Gruppe erhöht.
Woher kommt der Missionierungsdrang?
Wokeness / Identitätspolitik ist oft verbunden mit ausgeprägten Feindbildern und teilt die Welt scharf in Gut und Böse. Wer sich als «woker» Mensch mit dem «guten Lager» identifiziert, wird durch alle, die seine Haltung nicht teilen, verunsichert. Kritik wird auf diesem Hintergrund zudem rasch als Angriff empfunden. Missionierungsbemühungen sind ein Mittel, diese Verunsicherung zu bekämpfen. Sie festigen die Identifikation mit dem Lager der Guten und wehren vermeintliche Angriffe ab.
Religion braucht eher einen Teufel, aber nicht unbedingt einen Gott
Insgesamt sind also die Gemeinsamkeiten zwischen Identitätspolitik und Religion doch so stark, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken. Identitätspolitische Aktivisten sind sich nicht bewusst, wieviele christliche Elemente sie mit ihrem Buss- und Schuldkult tradieren.
Religionen brauchen nicht unbedingt einen Gott, aber in den meisten Fällen eine Art von Teufel. In der als Religion gelebten Identitätspolitik kann der Rassismus als eine Art von Teufel aufgefasst werden. Sich gegen Rassismus zu engagieren ist ein ehrenwertes Anliegen. Schliesslich war und ist Rassismus der Ausgangpunkt für monströse Verbrechen wie die Shoa oder andere Genozide. Aber Rassismus in identitätspolitischer Manier als Teufel zu bekämpfen ist mit grosser Wahrscheinlichkeit kein wirksamer Weg, sondern eine Sackgasse.
Der Philosoph Pascal Bruckner sagt in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger zum Woke-Antirassismus, er sei «ein Mittel zur Sabotierung der Integration, indem er die Leute auf ihre Herkunft reduziert und gegeneinander aufhetzt. Daher finde ich ihn höchst beunruhigend». Der neue Anti-Rassismus sei «eine Ablenkung von den echten Problemen, den sozialen Problemen des sich öffnenden Grabens zwischen Arm und Reich. Die schwarze Community in den USA hat zwei Probleme: die Gewalt und die Misere. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, bleibt die Rhetorik des neuen Anti-Rassismus bloss Schaumschlägerei». Die Woke-Bewegung sei «keine Antwort auf Diskriminierung, wie das bei der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den Siebzigerjahren der Fall war. Sie ist eher eine Art Religion universitärer Kreise, um deren Vertreterinnen und Vertretern ein gutes Gewissen zu verschaffen».
Im Gegensatz zur Identitätspolitik wird ein universalistischer Ansatz dafür kämpfen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Das war beispielsweise der Traum des Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929 – 1968). Er strebte danach, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt («Farbenblindheit»).
In seiner berühmten «I have a dream»-Rede am 28. August 1963 sagte King:
«Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.»
Die Identitätspolitik pflegt einen Ansatz, der sich fundamental von diesem Universalismus der Menschenrechte unterscheidet. Und es spricht viel für einen universalistischen Ansatz, denn er hat eine ganze Reihe von Erfolgen vorzuweisen. Obwohl der Weg noch lang ist.
Quellen:
Replying to Jordan Peterson (Richard Dawkins)
Beitrag auf Wikipedia zu Transsubstantiation
Interview über Identitätspolitik: «Die Woke-Bewegung ist eine Art Religion universitärer Kreise» (Tages-Anzeiger, Abo)
«Die Erwählten – Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet», von John McWhorter, Hoffmann & Campe 2023. Siehe dazu auch: Buchbesprechung und Zitate.
«Kampf der Identitäten – Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale», von Jan Feddersen und Philipp Gessler, Ch. Links Verlag 2021. Buchbesprechung und Zitate.
Ergänzungen:
☛ Siehe auch: Was ist Identitätspolitik?
☛ Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
☛ Identitätspolitik unterminiert Wissenschaft
☛ Siehe auch: Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
☛ Sinan hat in seinem YouTube-Kanal Identitätspolitik als Religionsersatz thematisiert: