Beim Thema «Identität» geht es um die Frage, wer jemand ist. Identitätspolitik macht die Antwort auf diese Frage an bestimmten Merkmalen fest (z. B. Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht, kulturell-religiöse Kennzeichen). Identitätspolitik bildet aufgrund solcher Merkmale Bevölkerungsgruppen und richtet auf diese den Fokus ihrer Aufmerksamkeit.
Identitätspolitik gibt es von rechts, von links und aus der islamistischen Sphäre. Die Politologin Ulrike Ackermann schreibt dazu in ihrem Buch «Die neue Schweigespirale»:
«Die Identitätspolitik von rechts strebt ein ethnisch homogenes Volk an, jene vonseiten des politischen Islams führt den Kampf gegen den ungläubigen Westen, und die von links kämpft gegen die weisse, patriarchale, kolonialistische Tätergesellschaft. Alle drei attackieren die freiheitlichen Errungenschaften der Moderne, die Aufklärung und den Universalismus der Menschenrechte und sind militant antiliberal.» (Seite 10)
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Gemeinsamkeiten verschiedener Varianten der Identitätspolitik
Auf den ersten Blick scheint es zwischen rechten, linken und islamistischen Strömungen fast nur Unterschiede zu geben. Im Bereich der Identitätspolitik überschneiden sie sich aber auch an wesentlichen Punkten.
Ulrike Ackermann schreibt dazu:
«Was die Varianten der Identitätspolitik eint, ist ihre radikale Kritik an der westlichen Moderne und deren freiheitlichen Errungenschaften. Dem Universalismus der Aufklärung setzen sie den Partikularismus und die Relativierung der Kulturen beziehungsweise den Ethnopluralismus entgegen. Anstelle einer Wertschätzung des Individuums wird das Kollektiv gefeiert. Die westlich-liberale Zivilisationsgeschichte sehen sie nicht als Erfolg, sondern als Desaster an. Sie alle verbindet ein zutiefst anti-westliches Ressentiment und der Hass auf den Liberalismus. Und dies gerade in einer Zeit, in der weltweit Demokratie und Freiheit unter immer grösseren Druck geraten. Neoimperiale Grossmächte wie Russland und China treiben den Westen seit Jahren in die Enge, attackieren – wie auch der politische Islam – unsere freiheitliche Lebensweise und destabilisieren unsere Demokratie.
Der Jahrzehnte lang verharmloste Diktator Vladimir Putin begeht nun in der Ukraine Kriegsverbrechen und droht uns mit Atomwaffen. Putin-Verehrer hatten wir schon lange an den rechten und linken Rändern, Putin-Versteher und Verharmloser seiner Diktatur sowie des kommunistischen Regimes der Sowjetunion im linksliberalen Lager bis weit in die politische Mitte. Obwohl Putins Chefideologe Alexander Dugin bereits 2015 den ‘Dschihad gegen den westlichen Liberalismus’ ausgerufen hatte. Die Warner blieben lange Zeit marginalisiert. Umso paradoxer ist es, wenn die freiheitlichen Werte und Errungenschaften der westlichen Zivilisation, Rechtsstaat, repräsentative Demokratie, die Wertschätzung des Individuums, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit nicht nur von aussen, sondern auch innerhalb unserer liberalen Demokratie und offenen Gesellschaft radikal infrage gestellt werden – nicht von der Mehrheit, aber von selbstbewussten, minoritären Gruppen.
Solch westlicher Selbsthass ist nicht nur dekadent, sondern brandgefährlich und selbstzerstörerisch. Die Identitätspolitiken sind kollektivistisch und separatistisch zugleich, sie spalten, polarisieren und attackieren unsere liberale Gesellschaftsordnung.»
(Seite 156/157)
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Unterschätzte Gefahren linker Identitätspolitik
Die Gefahren rechter Identitätspolitik liegen auf der Hand. Sie zeigen sich beispielsweise in tragischer Regelmässigkeit in Form von Anschlägen wie denjenigen in Christchurch, Halle und Utøya. Die Gefahren islamistischer Identitätspolitik zeigen sich ebenfalls zum Beispiel in Form von Anschlägen wie denjenigen von Paris im Jahr 2015 (Charly-Hebdo-Redaktion, Bataclan) oder in der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty in einem Pariser Vorort.
Rechte und islamistische Identitätspolitik stehen sich in erbitterter Feindschaft gegenüber, brauchen sich aber gegenseitig als Feindbild. Sie merken in der Regel nicht, dass sie sich mit ihrem Extremismus gegenseitig perfekt in die Hände spielen.
Rechte und linke Identitätspolitik stehen sich ebenfalls als Feinde gegenüber und brauchen sich als Feindbild. Linke Identitätspolitik verharmlost oft aus ideologischen Gründen islamistische Identitätspolitik, zum Beispiel wegen fragwürdigen postkolonialen Theorien oder problematischen antirassistischen Konzepten.
Linke Identitätspolitik zeigt sich in unterschiedlichen Feldern und wird deshalb als zusammenhängendes Phänomen oft nicht erkannt. Am häufigsten begegnet man ihr gegenwärtig im Bereich der «Gender-Thematik» und als spezielle Form des antirassistischen Engagements. Dadurch entsteht sehr leicht ein irreführender Eindruck, denn die Bekämpfung von Rassismus, der Schutz von Minderheiten und Gleichstellungsfragen werden zu Recht von vielen Menschen als positive Bestrebungen aufgefasst.
Dabei geht allerdings oft unter, dass Identitätspolitik diese Themen in einer sehr speziellen Art und Weise analysiert und angeht. Und diese spezielle Herangehensweise kann für Demokratie und Wissenschaft schädliche Folgen haben.
Ulrike Ackermann schreibt zur linken Identitätspolitik:
«Anfangs ging es um Sichtbarmachung von Diskriminierung und Benachteiligung bestimmter Gruppen und Personen, um soziale Gerechtigkeit, Partizipation, Respekt und Anerkennung für alle in der Gesellschaft. Es war gut gemeint und dringend notwendig, auf Ungleichbehandlungen und Gerechtigkeitslücken aufmerksam zu machen und dies zu ändern. Doch es mündete in einer erschreckenden Masslosigkeit. Über die Jahre ist eine Opferkultur und zugleich eine Opferkonkurrenz entstanden, die gerade nicht die beschworene Selbstermächtigung von Individuen im Fokus hat, sondern jedes Leid und jede Ungleichheit aus der Perspektive der realen oder vermeintlichen Diskriminierung einzelner Gruppen durch die weisse, patriarchale, kapitalistische, mit kolonialer Schuld beladene ‚Mehrheitsgesellschaft‘ sieht. Auf der Agenda der Aktivisten steht es daher, der Bevölkerung diesen unerhörten Zustand bewusst zu machen und in verhaltenstherapeutischer Manier läuternd auf sie einzuwirken, sie quasi umzuerziehen.
Dies ist die Woke-Kultur, die in den amerikanischen Universitäten, im Kulturbetrieb und in der Linken ihren Ursprung hat. Sie breitet sich auch bei uns immer weiter aus und gleicht inzwischen einer Art Erweckungsbewegung, wie wir sie von den Evangelikalen kennen. Auch wenn wir über Jahrhunderte einen erfolgreichen Säkularisierungsprozess durchlaufen haben, schützt uns dies offensichtlich nicht vor dem Rückfall in vormoderne Denk- und Glaubenstraditionen. Der Wunsch nach Heil, nach Erlösung, nach Reinigung und Sühne ist denn auch in modernen, post- oder spätmodernen Zeiten nicht zu tilgen……
Die Woke-Cultur mit ihrer Neigung zu Sprachmagie, Läuterungs- und Erweckungsprozeduren trägt tatsächlich religiöse Züge.» (Seite 52/53)
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Kritische Punkte
Im Folgenden sollen kritische Punkte der Identitätspolitik mit ihren problematischen Auswirkungen aufgeführt werden:
Postmoderne Theorien zersetzen Wissenschaft
Die Wurzeln der Identitätspolitik liegen in postmodernen Theorien, insbesondere in den Werken von Michel Foucault und Judith Butler. Danach sind Wissen und Wahrheit sozial konstruiert und mittels politischer, ökonomischer und medialer Macht konstruiert. Argumente verlieren dadurch ihre Bedeutung. Dass Fakten unabhängig von sozialen Konstruktionen existieren können, wird fundamental in Frage gestellt. Dass Wissenschaft sich einer unabhängig von Machtdiskursen existierenden Wahrheit annähern könnte, ebenfalls. Stattdessen gibt es unzählige unterschiedliche, gleichwertige Wissensformen und es setzt sich diejenige durch, die machtpolitisch am stärksten ist. Wissenschaft ist nur eine dieser Wissensformen und ein koloniales Projekt weisser Männer….
Diese postmodernen Theorien entziehen der Wissenschaft als Erkenntnismethode den Boden. Wer lauter schreit und bessere Propaganda macht, kann sein «Wissen» durchsetzen.
Identitätspolitik versus Universalismus
Der Begriff «Identitätspolitik» bezeichnet das Bestreben, eine auf Minderheiten ausgerichtete Politik zu betreiben, die sich auf «Rasse»/Hautfarbe, Geschlecht und Gender bezieht. Angestrebt werden höhere Anerkennung der jeweiligen spezifischen Gruppen, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und die Stärkung ihres Einflusses. Nun ist politisches Engagement gegen Diskriminierung aufgrund von «Rasse»/Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder sexueller Orientierung grundsätzlich sehr zu begrüssen. Dieses Engagement kann jedoch auf sehr unterschiedlichen Grundlagen stehen. Ein universalistischer Ansatz wird dafür kämpfen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Das war beispielsweise der Traum des Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929 – 1968). Er strebte danach, dass die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt («Farbenblindheit»).
In seiner berühmten «I have a dream»-Rede am 28. August 1963 sagte King:
«Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.»
Die Identitätspolitik pflegt einen Ansatz, der sich fundamental von diesem Universalismus der Menschenrechte unterscheidet. Hier werden die Mitglieder einer diskriminierten Gruppe in einem ersten Schritt mittels kultureller, ethnischer, sozialer oder sexueller Merkmale identifiziert. Menschen, die diese Eigenschaften besitzen, werden zu der Gruppe gezählt, die dabei oft als homogen betrachtet wird. Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen, werden dagegen ausgeschlossen. Tendenziell werden dabei Menschen nicht in erster Linie als Individuen betrachtet, deren Identität sich aus unterschiedlichen und veränderlichen Bestandteilen zusammensetzen kann, sondern als Träger einer eindeutigen kollektiven Opfer- oder Schuldidentität. Diejenigen, deren Gruppe in der Vergangenheit unter Ausgrenzungen litt, werden einem Opferkollektiv zugeordnet, das berechtigt ist, von den Trägern der Schuldidentität Läuterungsbekundungen zu verlangen.
Freund-Feind-Schemata
Dem pauschalisierten Opferkollektiv wird also ein ebenso pauschalisiertes Täterkollektiv gegenübergestellt, das eindeutig Schuld haben soll an den Ungerechtigkeiten und Demütigungen, welche das Opferkollektiv erlitten hat. Damit ist die Grundlage gelegt für ein identitätspolitisch konstruiertes Opfer-Täter-Narrativ und damit verbundene Freund-Feind-Schemata. Das Täterkollektiv spaltet sich in der Folge in «reumütige» und ignorante Täter. Aus ihm treten «reumütige» Täter hervor, die das Opferkollektiv als Kollektiv anerkennen und damit die Verantwortung für das vom Opferkollektiv beklagte Unrecht bereitwillig übernehmen. Sie übernehmen damit eine identitätspolitische Stellvertreterrolle für das restliche «Täterkollektiv» und erkennen für sich selbst die kollektivistisch konstruierte Schuldidentität individuell an.
Innerhalb des Opferkollektivs wird eine Opferhierarchie konstruiert, in der es von grosser Bedeutung ist, wer mehr Opfer ist und wer weniger.
Diese komplizierten, aber zugleich simplifizierenden Opfer-Täter-Konstrukte fördern gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung.
Standpunkttheorie
Ein weiterer wichtiger Punkt, an dem Identitätspolitik die Wissenschaft aushebelt, ist die «Standpunkttheorie». Thomas Zoglauer schreibt dazu in seinem Buch «Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter»:
«In der Identitätspolitik spielt die Gruppenzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Nur den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe wird eine objektive Sicht auf die Wirklichkeit zugetraut. Die Standpunkttheorie vertritt die Auffassung, dass bestimmte soziale Standpunkte und ihre Sichtweisen, vorzugsweise diejenigen einer unterdrückten sozialen Minderheit, epistemisch privilegiert seien…..
Andere Sichtweisen werden als biased oder interessegeleitet zurückgewiesen oder es wird ihnen ein falsches Bewusstsein unterstellt. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt demzufolge nicht nur vom Inhalt der Aussage, sondern auch davon ab, wer etwas sagt. Wenn aber die Gruppenzugehörigkeit bestimmt, was wahr und was falsch ist, dann gibt es keine universelle, für alle verbindlichen Wahrheiten mehr, vielmehr wird Wahrheit zu einer Frage der Gruppenloyalität.»
Quelle:
Konstruierte Wahrheiten – Wahrheit und Wissen im postfaktischen Zeitalter», von Thomas Zoglauer, Springer Vieweg Verlag 2021
Wer bestimmte Standpunkte privilegiert, betreibt keine Wissenschaft. Für Wissenschaft ist es grundlegend, dass Argumente bewertet werden unabhängig vom Standpunkt, von dem jemand spricht.
Siehe dazu weiter:
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
(Pro-Demokratie.Info)
Identitätspolitisches Denken zeigt viele Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
☛ Argumente und Begründungen spielen sowohl in Verschwörungstheorien als auch in der Identitätspolitik kaum eine Rolle.
☛ Beide gehen davon aus, dass eine schwer oder gar nicht erkennbare Macht im Hintergrund wichtige Vorgänge steuert und im Griff hat (Mechanistisches Menschen- und Gesellschaftsbild). Bei der Identitätspolitik besteht diese Macht allerdings nicht aus einer Gruppe von Verschwörern. Sie ist eingebrannt in gesellschaftliche Strukturen.
☛ Beide zeichnen eine Welt, die sich stark an einer Gut-Böse-Trennung orientiert. Bei der Verschwörungstheorie sind es die Verschwörer einerseits und ihre Opfer andererseits. Die Identitätspolitik trennt scharf in Täter-Kollektive und Opfer-Kollektive. Verschwörungstheorien und Identitätspolitik lehnen sich damit beide an alten religiösen Konzepten an, die zum Beispiel im Manichäismus zu finden sind.
☛ Beide sind in der Lage, ein Gefühl der Erleuchtung zu vermitteln. Die «Aufgewachten» bzw. «Woken» fühlen sich als Avantgarde gegenüber den «Schlafschafen». Der Übergang vom «Schlafschaf» zum «Aufgewachten» ist nicht selten mit einer Art von Erweckungserlebnis verbunden. Sowohl Verschwörungstheorien als auch Identitätspolitik zeigen dabei Ähnlichkeiten mit den religiösen Vorstellungen der Gnosis. Die Identitätspolitik verstärkt diese religiösen Elemente noch durch eine Vorstellung, die der Erbsünde nahekommt. Danach tragen weisse Menschen die Erbsünde des Rassismus mit sich, unabhängig davon ob sie sich rassistisch verhalten oder nicht. Diese Schuld zu bekennen ist folgerichtig ein Weg hin zum «Aufgewachten». Der in dieser Szene gern verwendete Begriff «woke» bedeutet, dass Menschen, die die «Matrix» erkannt haben, nun buchstäblich «erwacht» sind.
☛ Durch die Illusion des Tiefenblicks kann bei Identitätspolitik und bei Verschwörungstheorien das Gefühl der Einzigartigkeit vermittelt werden.
☛ Sowohl Identitätsideologen als auch Verschwörungstheoretiker und forschen und recherchieren nicht ergebnisoffen. Im Gegenteil: Sie behaupten, dass es so und so ist. Anschliessend suchen sie Belege dafür.
Siehe dazu auch weiter:
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik liegt falsch: Die Biologie kennt zwei Geschlechter, nicht mehr
Identitätspolitik versus Universalismus
Identitätspolitik als Gift für die Demokratie
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Identitätspolitik unterminiert Wissenschaft
Buchtipps:
«Identitätspolitik» von Bernd Stegemann
„Im Zeitalter der Identität – Der Aufstieg einer gefährlichen Idee„, von Yascha Mounk, Klett-Cotta 2024.