Mitteleuropa hat eine lange Periode ohne kriegerische Ereignisse hinter sich. Es gab zwar die Balkankriege und seit 2014 den weitgehend ignorierten Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Aber das mitteleuropäische Kernland – und somit auch die deutschsprachigen Staaten Deutschland, Österreich und die Schweiz – blieben von Kriegen verschont. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden die Militärausgaben stark reduziert. Dass Geld für Sinnvolleres ausgegeben werden kann als für Waffen, dafür konnten gute Gründe ins Feld geführt werden. Angesichts des vollen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine stellt sich allerdings die Frage nach der Wehrhaftigkeit der westlichen Demokratien.
Wir sind zu postheroischen Gesellschaften geworden. Heldentum und Wehrhaftigkeit haben ihre Bedeutung weitgehend verloren. Und grundsätzlich kann sich eine Gesellschaft glücklich schätzen, die solche Werte nicht mehr nötig hat.
Wie entstehen postheroische Gesellschaften?
Die lange Phase der Abwesenheit kriegerischer Ereignisse hat zur Entwicklung postheroischer Gesellschaften beigetragen. Es sind inzwischen mehrere Generationen aufgewachsen, die sich Krieg zwar in den Medien anschauen können, aber keine Erfahrung damit in ihrem Leben haben. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler beschreibt weitere Faktoren, die zur Entstehung von postheroischen Gesellschaften beitragen, darunter die «Erosion des Religiösen»:
«Weil die Idee des Opfers, bei dem einer sich hingibt, um das Ganze zu retten, ohne Religionsbezug schwerlich gedacht werden kann, haben heroische Gesellschaften zumeist einen religiösen Kern. Oder anders formuliert: Die Erosion des Religiösen befördert die Entwicklung postheroischer Dispositionen. Diesem religiösen Kern sind auch die politischen Religionen im Sinne Eric Voegelins zuzurechnen: Ideologien also, die Gesellschaften wie Gemeinschaften zusammenschweißen und sie mit Symboliken versorgen, die den bloßen Tod im Kampf in ein heroisches Opfer verwandeln.
Nur Gesellschaften, die über diese Fähigkeit zur sinnhaft-symbolischen Aufladung des Todes verfügen, können als heroische Gesellschaften begriffen werden. In den anderen, präheroischen wie postheroischen Gesellschaften, werden die Toten von Kriegs- und Kampfhandlungen als die Folgen eines bloßen Abschlachtens begriffen. Nicht das Blut, das an seinen Waffen klebt, macht den Krieger zum Helden, sondern seine Bereitschaft zum Selbstopfer, durch das andere gerettet werden. Demgemäß ist der Held nicht durch seine Kampfkraft, sondern durch die Opferbereitschaft definiert. Im Umgang mit dem Wissen um dieses Opfer erweist sich das Heroische.»
Auch die Abnahme der Kinderzahl pro Familie trägt zur Entwicklung postheroischer Gesellschaften und zur Verminderung der Wehrhaftigkeit bei. Herfried Münkler schreibt dazu:
«Im Unterschied zu den reichen Ländern der OECD-Welt »können die Familien der Dritten Welt einen oder gar mehrere Söhne verlieren und immer noch weiter funktionieren … Drittweltländer können Millionenarmeen junger Männer ins Feuer schicken, die als zweite oder gar vierte Söhne daheim nirgendwo wirklich gebraucht werden, weshalb für sie der Heroismus als wirkliche Chance erscheinen kann….
Dem haben die reichen Länder des Nordens, an ihrer Spitze die USA, allenfalls ihre technologische Überlegenheit entgegenzusetzen, aber deren Ausspielen führt sogleich in bedrohliche moralische Paradoxien.»
Während heroische Gesellschaften immer wieder von Neuem zahllose Söhne verheizen können, weil unter ihren Kindern die nächsten Massenarmeen schon bereit stehen, riskieren die postheroischen Gesellschaften schnell jedes Ansehen, wenn durch ihre Schläge auch Kinder auf der anderen Seite getroffen werden.
Studie zeigt schwache Wehrhaftigkeit in Österreich
Eine Studie der Universität Innsbruck hat die Wehrhaftigkeit in Österreich untersucht. Das Resultat der Umfrage fasst der «Standard» so zusammen:
«Etwas über 14 Prozent der Befragten würden ihr Land im Falle eines bewaffnen Angriffs mit der Waffe verteidigen. Knapp 14 Prozent stimmten zu, Österreich solle im Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen anderen EU-Mitgliedsstaat diesem mit bewaffneten Truppen beistehen. 72 Prozent der Befragten gaben an, dass sie auf der anderen Seite aber durchaus erwarten, dass andere EU-Staaten Österreich militärisch verteidigen.»
Obwohl nur ein kleiner Teil der Befragten dazu bereit war, selbst zur Waffe zu greifen, gaben zugleich 47 Prozent der befragten Personen an, dass sich Österreich im Falle eines Angriffs durchaus militärisch verteidigen solle.
Die Studie wurde durchgeführt vom Austrian Foreign Policy Panel Project, abgekürzt AFP3.
Wehrhaftigkeit wird auf der Website des AFP3 definiert als die Bereitschaft von Menschen, im Fall eines Angriffs zur Waffe zu greifen und ihr Land zu verteidigen oder auch einen anderen militärischen Beitrag zu leisten, zum Beispiel durch Mitarbeit bei der Herstellung kriegswichtiger Güter.
Die Forschung hat gezeigt, dass die Wehrhaftigkeit von Menschen durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird. Frauen sind etwa weniger bereit, zur Waffe zu greifen, was letztlich auch daran liegt, dass sie oftmals keinen Wehrdienst leisten und ihre Bindung zum Militär daher geringer ausfällt, als es bei Männern der Fall ist.
Solidarität und Wehrhaftigkeit müssen trainiert werden wie ein Muskel
Im Gespräch mit dem «Standard» zieht Projektleiter Martin Senn unter Rückgriff auf den Politikwissenschaftler Herfried Münkler den Vergleich mit dem Training eines Muskels:
„Solidarität muss trainiert werden, und das ist in Österreich eben nicht mehr passiert.“
Nicht nur in Österreich, sondern in Europa generell sei man seit Ende des Zweiten Weltkriegs davon ausgegangen, dass militärische Kriege der Vergangenheit angehörten. Im Fall von Österreich komme ausserdem hinzu, dass sich das Land als Insel wahrgenommen habe, umgeben von Nato- und EU-Staaten. In der mentalen Geografie habe sich Österreich also weit entfernt gesehen von sicherheitspolitischen Problemen.
Für die neutrale Schweiz dürfte Ähnliches gelten.
Martin Senn weist darauf hin, dass In Staaten, in denen eine hohe Wehrhaftigkeit vorherrscht, Solidarität praktiziert werde, etwa durch einen längeren Wehrdienst. Im Gegensatz dazu sei in Österreich das Milizsystem über Jahre hinweg reduziert worden – was „das Gegenteil einer Stärkung des Solidaritätsmuskels“ bedeute.
Laut Senn zeigt die Umfrage aber auch Probleme in der politischen Bildung, sowie in der Kommunikation und Debatte über Sicherheitspolitik auf.
Notwendiger Umdenkprozess
In einem Kommentar zur AFP3-Studie im „Standard“ mit dem Titel „Wehrhaftigkeit muss gelernt sein“ fordert Anna Giulia Fink einen Umdenkprozess. Es obliege der Regierung, diesen Umdenkprozess einzuleiten. Der Bevölkerung werde nämlich seit Jahrzehnten von oberster Stelle erklärt, die Neutralität Österreich würde sie schützen: „Inwiefern diese Behauptung überhaupt zutrifft, wie dieser Status verteidigt werden kann, wie Wehrhaftigkeit erreicht und im Angriffsfall Solidarität mit anderen EU-Ländern erfolgen soll – diese Diskussion führt sie nicht“.
Anna Giulia Fink fährt fort:
„Wie auch die Regierung in Deutschland muss jene in Österreich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Frieden, Demokratie und Freiheit nicht garantiert sind, sondern verteidigt werden müssen. Im Notfall auch mit Waffen. Das beginnt bei der geistigen Aufrüstung.“
Diese Diskussionen und diese Umdenkprozesse sollten auch in der Schweiz geführt werden.
Quellen:
Österreicher laut Studie kaum bereit zu Landesverteidigung (Der Standard)
ANNA GIULIA FINK: Wehrhaftigkeit muss gelernt sein (Der Standard)
«Heroische und postheroische Gesellschaften», von Herfried Münkler (Merkur)
Anmerkungen:
☛ Es ist wohl weder möglich noch ist es erstrebenswert, dass demokratische Gesellschaften wieder heroisch werden. Sie sollten sich aber den sicherheitspolitischen Fragen stellen, die sich aus den beschriebenen Entwicklungen ergeben. Was heisst es, wenn eine postheroische Gesellschaft auf Gegner stösst, die noch voll und ganz durch heroische Leitbilder geprägt ist. Die Hamas, die Hisbollah, der IS, das Islamische Regime im Iran – sie alle sind geleitet von einem Todeskult. Wer in ihren Reihen kämpft, kann nicht verlieren. Entweder gewinnt er auf dem Schlachtfeld, oder er stirbt, und kommt geradewegs ins Paradies – so jedenfalls die Versprechung. Postheroische Gesellschaften, die mit ihren Soldaten schonender umgehen, haben bezüglich Wehrhaftigkeit gegen solche Todesverächter keinen leichten Stand.
☛ Wenn nur noch eine Minderheit bereit ist, ihr demokratisches Land mit der Waffe zu verteidigen, dann sollte uns das zu denken geben. Offensichtlich sind viele Menschen gerne bereit, die Vorteile liberaler Demokratien zu konsumieren. Aber verteidigen würden sie diese Gesellschaftsordnung gegenwärtig offenbar nicht. An Hier braucht es in Bezug auf Wehrhaftigkeit einen Bewusstwerdungsprozess mit politischer Bildung und entsprechenden sicherheitspolitischen Debatten. Packen wir das an!
☛ Siehe auch:
Kommt die «Zeitenwende» in der Schweiz an?
Schweiz verpennt «Zeitenwende» bezüglich Ukraine-Krieg
Viele Herausforderungen für westliche Demokratien – packen wir das?