Die «Zeit» interviewt im Nachgang zum Hamas-Terroranschlag in Südisrael den Politikwissenschaftler Samuel Salzborn, der als Ansprechpartner des Landes Berlin zum Thema Antisemitismus fungiert. In diesem Gespräch geht es auch um die Bedeutung des Antiimperialismus. Die Interviewerin Jana Hensel stellte die Frage, woher die Zurückhaltung der deutschen und europäischen Linken kommt, was die Verurteilung des Terrorangriffs auf Israel betrifft. Antwort Samuel Salzborn:
«Die Frage ist, was man unter links versteht. In der SPD gibt es eine sehr klare Verurteilung. Aber in der außenparlamentarischen Linken haben wir tatsächlich ein großes, lange tradiertes Problem: nämlich das Weltbild des Antiimperialismus. Der Antiimperialismus ist in den Sechzigerjahren als Abschied von den klassischen linken marxistischen Theorien entstanden. Er geht nicht mehr davon aus, dass es einen Widerspruch innerhalb von Gesellschaften, sondern zwischen Gesellschaften gibt. Er identifizierte plötzlich ganze Nationen, die durch bestimmte vermeintlich imperialistische Nationen unterdrückt wären.»
«In dem Fall die Palästinenser», ergänzt die Interviewerin.
«Genau» bestätigt Salzborn und fährt fort:
«So wurden die Palästinenser für große Teile der europäischen und der deutschen Linken zum Solidaritätsobjekt. Dieses Erbe trägt man bis heute weiter. Denn der Antiimperialismus denkt grundsätzlich in Schwarz und Weiß. Das ist ein massives Problem auch für die aktuellen Auseinandersetzungen. Hier ist eine Selbstkritikfähigkeit der außerparlamentarischen Linken bis heute schlicht und ergreifend nicht vorhanden ist.»
Quelle der Zitate:
Samuel Salzborn: „Die Bedrohungslage ist momentan extrem hoch“ (Zeit online)
Antiimperialismus und Manichäismus (Gut-Böse-Spaltung)
Der Antiimperialismus interpretiert auf der Basis seines Manichäismus die Konfliktursachen häufig sehr einseitig. Israel gilt dabei oft als „Brückenkopf“ eines US-amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten oder umgekehrt, die USA als von israelischen, sprich jüdischen Interessen gelenkt. Das zeigt sich beispielsweise in der antiisraelischen und antisemitischen BDS-Kampagne, die mittels Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen die israelische der Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft Israel zu Konzessionen gegenüber den Palästinensern zwingen will. Der Forderungskatalog von BDS läuft auf eine Abschaffung des jüdischen Staates hinaus.
Besonders beliebt ist BDS in akademischen Szenen der Geistes- und Humanwissenschaften. Zahlreiche einflussreiche Vertreterinnen und Vertreter insbesondere der postkolonialen und quer-feministischen Wissenschaften unterstützen BDS: So sensibel in diesen Kreisen auch auf unterschiedliche Formen von Diskriminierungen und deren Überschneidungen reagiert wird, Antisemitismus scheint dabei selten Berücksichtigung zu finden.
Der Antiimperialismus ist also wandlungsfähig. Im akademischen Antisemitismus queerfeministischer und postkolonialer Szenen erhält sich ein antiimperialistisches Erbe, das Israel zum rassistischen Kolonialstaat dämonisieren will. In diesen aktivistischen Zusammenhängen kommt es leicht zum Schulterschluss mit Apologeten der Gewalt. Ein Beispiel dafür ist die queertheoretische Ikone Judith Butler, welche einst die Terror-Organisation Hamas als Teil der globalen Linken bezeichnete. Das begriffliche Instrumentarium, dessen man sich in diesen Wissenschaftsströmungen bedient, scheint schlecht geeignet, um Antisemitismus zu verstehen.
Quelle: «Antiimperialismus», in: Antisemitismus im linken Spektrum, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Beitrag von Tom David Uhlig.
☛ Die erwähnten Theorien des Postkolonialismus und Queerfeminismus gehören in den Kontext der Identitätspolitik. Weitere Informationen dazu hier:
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien
☛ Buchtipp zum Thema:
«Judenhass Underground: Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen», von Nicholas Potter und Stefan Lauer (Hrsg.), Hentrich & Hentrich Verlag 2023.