Der Begriff «Populismus» wird oft ungenau verwendet und als politischer «Kampfbegriff» eingesetzt. So ist es zum Beispiel fragwürdig, wenn bereits von Populismus geredet wird, wenn ein Politiker einfache Lösungen für komplexe Probleme propagiert oder dem «Volk» nach dem Mund redet. Derart unscharf eingesetzt, verliert der Begriff weitgehend seine Aussagekraft. Um die politische Urteilskraft zu bewahren, ist eine präzisere Definition notwendig.
An welchen Merkmalen ist Populismus erkennbar?
► Der Politologe Jan-Werner Müller – auf den sich dieser Beitrag wesentlich bezieht – beschreibt Populismus als eine Politik, die einen scharfen Gegensatz postuliert zwischen einem moralisch reinen Volk und korrupten, parasitären Eliten, die nicht zum wirklichen Volk gehören.
► Rechtspopulisten schließen zusätzlich auch eine vermeintliche parasitäre Unterschicht aus dem wahren Volk aus.
► Populisten beanspruchen typischerweise für sich einen moralischen Alleinvertretungsanspruch und negieren die Pluralität der Gesellschaft, was antidemokratisch ist. Sie schließen gerne fiktive „Verträge mit dem Volk“ und ignorieren die Vielfalt innerhalb der Gesellschaft.
► Für Populisten existiert nur ein einziger, klar erkennbarer Volkswillen, den der Führer oder die Führungsmannschaft eindeutig identifizieren kann. Unterschiedliche Interessenlagen im Volk werden damit verneint.
► Die Führerfigur im Populismus wird als entscheidend angesehen, da sie verspricht, die Macht von den Eliten zurückzuholen. Damit ihr das gelingen kann, muss sie einerseits als mächtig imaginiert werden. Andererseits wird sie gleichzeitig als unwichtig dargestellt, weil sie als Person hinter dem «Auftrag» zurücktreten soll.
► Populismus strebt eine direkte Verbindung zwischen Volk und Macht an, was die Rolle von Institutionen untergräbt und die Demokratie gefährden kann. Zudem neigen Populisten zu militaristischen Ansätzen, da ihre Politik auf Abgrenzung basiert und innere sowie äußere Sündenböcke benötigt. Dies führt zu erhöhten Ausgaben für die Bereiche der inneren Sicherheit und Verteidigung.
Wie erklären Populisten den Umstand, dass sie nicht an der Macht sind?
Solange Populisten in der Opposition sind, müssen sie eine Erklärung dafür liefern, weshalb sie nicht an der Macht sind, obwohl sie sich als Vertreter des „Volkes“ sehen. Um diesen Widerspruch zu lösen, nutzen sie hauptsächlich drei Strategien:
- Die „Schweigende Mehrheit“: Populisten behaupten, dass es ein „Volk“ gibt, das außerhalb der Wahlen und konventionellen demokratischen Verfahren existiert und insgeheim ihre Ansichten teilt.
- Moralische Gewinner: Nach einer Wahlniederlage unterscheiden Populisten zwischen einem empirischen und einem moralischen Wahlergebnis. Sie argumentieren, dass diejenigen, die gegen sie gestimmt haben, moralisch nicht zum wahren „Volk“ gehören, was ihnen das Gefühl gibt, moralische Gewinner zu sein.
- Defekte und korrupte Prozeduren: Zusätzlich führen Populisten an, dass die demokratischen Prozesse fehlerhaft oder korrupt sind, da sie mit ihrem Alleinvertretungsanspruch keine Mehrheit erreichen. Sie behaupten, die Medien seien von der herrschenden Elite manipuliert, und bedienen sich oft Verschwörungstheorien, um ihre Niederlagen zu erklären. Ein Beispiel dafür ist die Lüge von der gestohlenen Wahl im November 2020, die Donald Trump verbreitet.
Wie funktionieren Populisten an der Macht?
Welche Strategien nutzen Populisten, wenn sie an die Macht gekommen sind, um ihre Herrschaft zu legitimieren und zu festigen? Oft hört man die Ansicht, Populisten würden an der Macht rasch an den Fakten scheitern und sich selber entzaubern. Damit aber machen es sich die Gegner der Populisten zu einfach.
Populisten können sehr wohl an der Macht sein und gleichzeitig Eliten kritisieren – nämlich die alten, die hinter den Kulissen immer noch die Strippen ziehen und die Populisten daran hindern, den wahren Volkswillen zu vollstrecken. Mehrheiten können sich wie verfolgte Minderheiten aufführen und damit von eigenen Misserfolgen ablenken. Und ob sie in der Opposition sind oder an der Macht: Populisten werden die politische Auseinandersetzung immer extrem polarisieren und moralisieren, sowie laufend neue Sündenböcke und Feinde entdecken. An der Macht zelebrieren die Populisten Volksnähe und die Krise als Dauermodus.
Im Einklang mit ihrem Alleinvertretungsanspruch und den damit verbundenen Antipluralismus wenden Populisten an der Macht ganz bestimmte Herrschaftstechniken an. Konkret lassen sich drei Herrschaftstechniken beschreiben, die charakteristisch sind für den Populismus, wenn er an die Macht gelangt:
- Vereinnahmung des gesamten Staates: Populisten besetzen den Staatsapparat mit eigenen Anhängern und versuchen, Justiz und Medien unter Kontrolle zu bringen. Kritiker werden als Vertreter der alten Eliten oder als Verräter dargestellt.
- Loyalitätsbeschaffung durch Massenklientelismus: Populisten sichern sich Unterstützung durch privilegierte Behandlung ihrer Anhänger. Enthüllungen über Klientelismus schaden ihnen oft nicht. Denn aus Sicht ihrer Anhänger haben sie das alles nur für sie, das wahre Volk, getan.
- Unterdrückung von Zivilgesellschaft und Medien: Populisten diskreditieren kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft, um den Eindruck zu vermeiden, dass sie nicht das gesamte Volk repräsentieren. Sie stellen oft Behauptungen auf, dass Oppositionelle von ausländischen Agenten gesteuert wird.
Diese Techniken sind durch einen „diskriminierenden Legalismus“ gekennzeichnet, bei dem das Recht unterschiedlich angewendet wird, je nachdem, ob es sich um Gegner oder Unterstützer handelt. Zudem können Populisten die Verfassung zu ihren Gunsten umschreiben, was den Pluralismus gefährdet und ihre Abwahl erschwert.
Zum Umgang mit Populismus
Für den Umgang mit Populismus besteht die Herausforderung darin, die Auseinandersetzung mit diesem potenziell antidemokratischen Phänomen in einer demokratischen Weise zu führen, ohne die Selbststilisierung der Populisten, sie würden durch die bösen Eliten diskriminiert, noch zu verstärken. Wichtige Punkte umfassen:
- Populismus sollte nicht psychologisiert oder pathologisiert werden. Populisten erkennt man nicht an ihrer Gefühlslage, sondern an ihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch.
- Populistische Parteien sollten nicht verboten werden, es sei denn, sie betreiben Volksverhetzung oder Gewaltaufrufe.
- Eine moralische Ausgrenzung der Populisten durch politische Parteien, Medien und Zivilgesellschaft ist kontraproduktiv; stattdessen sollte der Dialog gesucht werden. Eine „Mit denen reden wir nicht!“-Haltung bestätigt Populisten nur in ihrer Vorstellung, ein Machtkartell der etablierten Elite unterdrücke jede Kritik.
- Provokationen der Populisten sollten ignoriert oder sachlich beantwortet werden, anstatt emotional zu reagieren.
- Populisten pflegen oft nur eng begrenzte Themenfelder (Flüchtlinge, Islam, Europa…). Es ist wichtig, auch Themen anzusprechen, die nicht im Fokus der Populisten stehen, um deren schwache Lösungsansätze zu entlarven.
- Der Vielfalt der Meinungen in der Bevölkerung sollte Rechnung getragen werden, um die Illusion eines einheitlichen „Volkswillens“ zu widerlegen.
- Kritik sollte differenziert und konstruktiv sein, während pauschale Diffamierungen vermieden werden sollten.
- Etablierte Parteien sollten populistische Forderungen nicht kopieren, da die Wähler das Original bevorzugen.
- Die Würde des Arguments und die Wertschätzung von Expertenwissen sind essenziell, um populistischen Ansätzen entgegenzuwirken.
- Es sollte genau beobachtet werden, wo Populisten reale Probleme ansprechen, um alternative, nicht-populistische Lösungen anzubieten.
Quelle:
Jan-Werner Müller, Was ist Populismus, edition suhrkamp 2016