Die Gestalt des Messias als Heilsbringer, der das Leiden und Elend beendet, die Machtverhältnisse neu ordnet und die Gottesherrschaft errichtet, spielt in vielen Religionen eine zentrale Rolle – zum Beispiel im Christentum, im Judentum und im Islam. In seiner säkularen, religiös entkernten Form besteht der politische Messianismus in einer Verschmelzung von Personenkult, Massenbewegung, Erwählungsdünkel und einem prägnanten Freund-Feind-Denken nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Messianismus beschreibt also ursprünglich ein religiöses Phänomen, findet jedoch auch im politischen Kontext Verwendung,
Dem Messianismus liegt die Annehme zugrunde, dass die Menschheitsgeschichte danach strebt, ein bestimmtes Ideal zu verwirklichen und damit einen Plan der Vorsehung zu erfüllen. In diesem Plan spielt der oder die „Auserwählte“ eine besondere Rolle („Mission“), wobei es sich sowohl um ein Individuum als auch ein Kollektiv handeln kann.
Damit verbunden ist beispielsweise die Überzeugung, dass man selbst oder jemand anderes, dem man/frau mehr oder weniger kritiklos folgt, die Lösung für alle Probleme ist beziehungsweise hat, und das gleich in mehrfacher Hinsicht:
► Im Hinblick auf die Identifikation des einen entscheidenden Problems, das es zu lösen gilt, um damit gleichzeitig alle anderen zu lösen;
► Im Hinblick auf die Art und Weise, wie dieses eine entscheidende Probleme anzugehen ist;
► Im Hinblick auf die zu erwartenden Effekte und die notwendigerweise einzusetzenden Mittel.
Auf dieser Grundlage ist dann alles Weitere relativ einfach oder eben (mehr als bedauerlicherweise) unterkomplex.
Zum Messianismus gehört der Missionsgedanke – auch mit geopolitischen Folgen
Ausgesprochen wichtig für den Messianismus ist der Missionsgedanke – also die Forderung, die Welt im Sinne der messianischen Idee umzugestalten. Mit dem Begriff der Mission ist die Überzeugung gemeint, dass eine bestimmte Gemeinschaft (ein Staat oder eine Nation) eine geschichtliche Sonderstellung einnimmt, die sich in einem besonderen, für sie vorgesehenen Schicksal manifestiert. Mit dem Gedanken der «Mission» verbunden sind drei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Elemente:
► Erstens die Überzeugung, ein besonderes Schicksal zu haben;
► Zweitens ein Gefühl von moralischer Überlegenheit;
► Drittens die Überzeugung, dass das staatliche Handeln nicht nur durch das eigene nationale Interesse festgelegt wird, sondern einem höheren Zweck folgt, der für eine größere (regionale, globale etc.) Gemeinschaft von Menschen von Bedeutung ist.
Messianismus kann Staaten dazu dienen, ihren Status auf der internationalen Bühne zu erhöhen. Indem sie von ihrer Mission sprechen, können dominante Staaten ihre dominante Position legitimieren. Sie ziehen dann beispielsweise in die Welt hinaus, um sie nach dem eigenen Bild zu formen, etwa durch die Verbreitung von Freiheit und demokratischen Ideen. Das kann zwar eine positive Mission sein, aber auch ins Desaster führen, wenn es unreflektiert und ohne das nötige Wissen um kulturelle Bedingungen durchgeführt wird. Die gescheiterte Mission zur Demokratisierung Afghanistans ist dafür ein illustratives Beispiel.
Forcierter politischer Messianismus ist unverträglich mit Demokratie und Rechtsstaat
Messianismus verträgt sich schlecht mit den realen Gegebenheiten dieser Welt und mit den Spielregeln einer rechtsstaatlich verfassten freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Problematisch bis gefährlich wird es, wenn die Messianismus-Affinen die Gräben immer weiter vertiefen zwischen ihnen selbst, den Wissenden, den Checkern, den Guten, den wohlmeinenden visionären Lebensrettern, und denen, die nicht ihrer Meinung sind und darum offensichtlich rückständig, verstockt, lebensfeindlich und unmoralisch.
Kommen noch Verschwörungstheorien ins Spiel, ist die Rede von Aufgewachten und Schlafschafen.
In einer solchen polarisierten politischen Landschaft gibt es nicht mehr die Frage nach richtig oder falsch, sondern nur noch die nach Gut und Böse. Es dominerte dann ein Manichäismus, der tief in religiösem Denken verankert ist.
In der politischen Praxis wird dann die Frage nach dem, was ist, eliminiert zugunsten der Frage nach dem, was sein soll.
Das abwägende Masshalten im eigenen Denken und Tun als Ausdruck der Anerkennung eigener Begrenztheit und Fehleranfälligkeit – wird diffamiert als Verzögerungstaktik.
Das Bemühen um eine differenzierte Wahrnehmung und eine entsprechende Wahrnehmungsvielfalt wird als überflüssig hingestellt.
Klugheit – der Versuch der Synthese unterschiedlicher Aspekte einer komplexen Welt – verliert im Messianismus ihren Status als Leitidee von Angemessenheit.
Der Einsatz von Vernunft und die daraus folgende Möglichkeit des besseren Arguments gehen unter. Sie verlieren gegen die schiere brachiale Setzung des Faktischen («So ist es»).
Messianismus – ein weltweiter Trend
Messianismus zündelt in vielen Konfliktherden der Gegenwart erheblich mit. Hier dazu stichwortartig ein paar Beispiele:
► Russland kennt eine lange messianischen Tradition, die durch Putin seit Jahren verschärft wird. Dazu hat Alicja Curanović ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «The Sense of Mission in Russian Foreign Policy. Destined for Greatness!». In Russland sei der Messianismus Teil der nationalen Kultur, sagt die Politikwissenschaftlerin. Eine wichtige Rolle dabei spiele die Vorstellung, dass Russland eine Grossmacht war, ist und bleiben soll. Nach diesen messianischen Vorstellungen ist Russland dazu bestimmt, diejenige Grossmacht zu sein,
die die Welt vor dem Bösen bewahrt und als Verteidigerin des Glaubens und der Familienwerte auftritt. Damit verbunden ist die Überzeugung eines engen Bundes zwischen Russland und anderen slawischen und christlich-orthodoxen Nationen sowie dem Christentum im Allgemeinen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche spricht am offensten über die Mission Russlands im 21. Jahrhundert. Wobei sie aber nicht von einer Mission der Kirche spricht, sondern von einer Mission des Staates. Auch in der Gegenwart zeigt sich das enge Bündnis zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche in Gestalt des Patriarchen Kyrill und Putin als dem Repräsentanten des Staates, die sich als zwei Glaubensbrüder im Kampf gegen das Böse inszenieren.
Mit dieser Mission zieht der russische Messianismus auch in die von Russland dominierten Nachbarländer, zum Beispiel in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, und versucht damit seine Dominanz zu legitimieren. Daneben gibt es im russischen Messianismus aber auch eine gegenhegemoniale Rolle von Russland als Underdog. Als solcher versucht es, sich und andere Nationen vor dem Druck zu schützen, den mächtigere, die normative Ordnung dominierende Länder auf sie ausüben.
Die zentrale Idee, die dem russischen Missionsgedankens zugrunde liegt, ist dabei nicht die Freiheit, sondern die Gerechtigkeit, so wie sie von Russland aus gesehen wird. Es soll darum gehen, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Welt vor dem Bösen zu beschützen. Dazu gehört auch, die russische Zivilisation zu bewahren, wozu sich das Land zuweilen in die Isolation begeben müsse, um zuerst seine Seele – und dann später die Welt – zu retten.
In diesen grundlegenden messianischen Gedanken stimmen die russischen Eliten und die gewöhnlichen Bürger des Landes weitgehend überein. Insbesondere teilen sie die Überzeugung, dass Russland eine Grossmacht ist und bleiben soll.
Unterschiedlich beantwortet wird allerdings die Frage, ob Russland, um Großmacht zu sein, eine Mission in der Welt verfolgen müsse. Die russischen Eliten unterstreichen sehr häufig, dass das russische Volk ein missionarisches Bewusstsein bräuchte, um sich gut zu fühlen.
Gewöhnliche Russinnen und Russen legen zwar auch Wert darauf, dass Russland eine Großmacht ist. Ihnen wäre es jedoch lieber, diesen Status durch innere Reformen zu erreichen und aufrechtzuerhalten, und nicht so sehr dadurch, dass Russland innerhalb der internationalen Arena im großen Massstab irgendeine Mission verfolgt. Sie wollen in einem wohlhabenden Land leben und der Grossmachtstatus soll auf den innenpolitischen Leistungen des Landes beruhen.
Die Eliten dagegen sprechen ausgiebig in aussenpolitischen Begriffen über Russlands Mission. Eine wahre Grossmacht muss ihrer Ansicht nach eine Mission besitzen, die über ihre eigenen Grenzen hinausgeht. Dieser Diskurs dient den russischen Eliten als ein Mittel der Selbstbestätigung und hilft ihnen, die eigenen Reihen geschlossen zu halten oder die kollektive Identität zu stärken.
Wladimir Putin treibt den russischen Messianismus auf die Spitze. Er verfolgt seine Mission, die Wiedererrichtung des russischen Imperiums, in einer hochgradig aggressiven, brutalen und menschenverachtenden Form. Das zeigt sich im Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch in fortlaufenden Drohungen gegen Länder wie Polen, Moldau, Georgien, Kasachstan, Finnland, Lettland, Litauen, Estland und weitere.
Das Putin-Regime hat den russischen Messianismus zur Grundgestalt einer imperialen Restauration gemacht und kriegerisch über die Grenzen hinaus ausgerichtet. Damit will sich der Herrscher im Kreml zum Restaurator russischer imperialer Grösse machen. Getarnt wird dies als Streben nach Souveränität, wobei aber nicht eine Volkssouveränität gemeint ist, sondern die absolute Machtstellung des Staates.
Souveränität drückt sich für Putin aus in der Unantastbarkeit des Staats, der mit der religiös aufgeladenen Idee von Russland als Heilsgeschehen verschmilzt. Damit verbunden ist die Unantastbarkeit des Russischen als zivilisatorische Ordnung, als „Russtum“, das sich in Sitte, Religion und Tradition zeigt.
In Wladimir Putins ideologischer Welt ist es die Heilsordnung der russländischen Nation, die eine Art säkularen Messianismus bestimmt. Es handelt sich um eine unheilige Allianz zwischen autoritärer Kirche und imperialem Staat. Sie ist eine der Quellen, aus der der politische Messianismus der russischen Ultranationalisten schöpft. Das Religiöse wird verstaatlicht und zur Sinngröße der Nation gemacht. Dieser russische Messianismus macht seinen Anführer Putin zum säkularen Retter der Nation.
Der Putinismus ist ausserdem stark geprägt durch Verschwörungstheorien.
Siehe dazu: Putinismus – Ideologie und Verschwörungstheorien
► In den USA zeigt sich Messianismus im Umfeld des „MAGA-Kultes“ und ihres Heilands Donald Trump, der immer wieder klar macht, dass nur er alle Probleme lösen kann – und das sofort. So schreibt er beispielsweise am 4. November 2024 auf X:
«KAMALA BROKE IT, BUT I WILL FIX IT! With your VOTE, inflation will END. The border will be SAFE & SECURE. We will have PEACE across the globe. WITH YOUR VOTE, AMERICA WILL ENTER A NEW GOLDEN AGE! Vote TRUMP to MAKE AMERICA GREAT AGAIN!»
Die für Trump charakteristische Dämonisierung politischer Gegner und der angebliche Kampf gegen das Böse sind Elemente eines pseudoreligiösen Manichäismus, der sich mit dem Messianismus verbindet. Trump sieht sich offensichtlich als Messias und die Anbetung durch seine Anhängerinnen und Anhänger füttert und bestätigt sein hungriges Ego in diesem Wahn.
Dazu passen auch die Auftritte eines Elon Musk auf den Wahlveranstaltungen Trumps, die ganz im Stil eines exaltierten evangelikalen Fernsehpredigers daherkommen.
►In China zeigt sich Messianismus in der Vorstellung, dass China eine besondere Rolle oder Mission in der Welt hat, die über nationale Interessen hinausgeht.
Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping hat in verschiedenen Reden und Schriften betont, dass China eine Führungsrolle in der globalen Ordnung übernehmen sollte, was einige Beobachter als eine Art messianische Vision interpretieren.
Ein Kernelement von Xi Jinpings Ideologie ist der „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“, der eine Kombination aus wirtschaftlicher Öffnung und politischer Kontrolle propagiert. Zudem hat er häufig die Notwendigkeit betont, die chinesische Kultur und chinesische Werte zu fördern, was als Teil einer größeren Mission gesehen werden kann, die Welt durch das chinesische Modell zu beeinflussen.
Diese Ideen werden oft in Zusammenhang mit Chinas Bestrebungen gebracht, seine geopolitische Macht zu erweitern und seine wirtschaftlichen Interessen global zu stärken. Ein Beispiel für dieses Bestreben ist die «Belt and Road Initiative», die auch als Teil dieser messianischen Vision betrachtet werden kann.
China stellt sich im Rahmen seiner messianischen Mission als Unterstützer von wirtschaftlich schwächeren Staaten zum Beispiel in Afrika dar und verdeckt damit seine Dominanz in diesen wirtschaftlichen Beziehungen und die damit verbundene Ausbeutung von Rohstoffen.
Xi Jinping hat sich in den letzten Jahren zunehmend dem Status eines Messias angenähert. Chinesinnen und Chinesen sind angehalten, seine Schriften zu lesen. Sein Amt als Staatspräsident hat er nun auf lebenslänglich inne, womit er immerhin schon mit dem «Überragenden Führer» und «Grossen Steuermann» Mao Zedong (1893 – 1976) gleichgezogen hat.
►Im Nahen Osten zeigt sich Messianismus in vielen Varianten.
Im Iran bezieht sich der Messianismus oft auf die religiösen und politischen Überzeugungen, die mit der Erwartung eines kommenden Retters oder Messias verbunden sind. In der schiitischen Tradition, die im Iran dominiert, spielt die Figur des Mahdi eine zentrale Rolle.
Als Mahdi wird der verborgene Imam angesehen, der am Ende der Zeiten zurückkehren soll, um Gerechtigkeit und Frieden zu bringen.
Diese messianischen Überzeugungen haben auch politische Dimensionen, vor allem in der modernen iranischen Geschichte. Einige politische Führer und Bewegungen im Iran haben sich auf diese Überzeugungen berufen, um ihre Agenda zu legitimieren und die Bevölkerung zu mobilisieren. Im Iran ist der politische Messianismus Leitidee der Ideologie der Islamischen Revolution und findet in den Revolutionsgarden ein radikales Ausführungsorgan.
Nach der religiösen Vision des «Obersten Führers» des Iran, Ali Khamenei, soll das heilige al-Quds (arabisch für Jerusalem) in den Händen der Muslime sein und die muslimische Welt die Befreiung Palästinas feiern, wozu die Auslöschung Israels Voraussetzung ist und deshalb als Staatsziel gilt. Dieser religiöse Messianismus bestimmt die politische Perspektive der Revolutionsgarden und ihres Führers Khamenei. Die schiitischen Diskurse im Iran und unter seinen nahöstlichen Proxys radikalisieren sich also durch einen eschatologischen Messianismus, der Jerusalem ins Zentrum eines endzeitlichen Kampfs rückt.
In Palästina und Israel greift die nationalistische Umdeutung religiöser messianischer Heilserwartungen zu einem weltlichen Geschehen der «Auferstehung der Nation» und damit ein verweltlichter rechtsextremer Messianismus weiter um sich. Er hat in Palästina in Form der Hamas und des Islamischen Dschihad die Bevölkerung in einen verheerenden Krieg geführt. In Israel bedroht er in Form der religiös-nationalistischen Parteien die soziale Integration der Gesellschaft, umfasst allerdings im Gegensatz zum diktatorisch regierten Palästina nur einen Teil der demokratischen Parteienlandschaft.
► Messianismus spielt auch eine Rolle in einem Teil der Klimaprotest-Bewegung. Damit verbunden ist oft die Idee, dass bestimmte Personen oder Gruppen als „Retter“ der Erde oder der Menschheit angesehen werden, indem sie Lösungen für die Klimakrise anbieten. Diese Perspektive kann dazu führen, dass einige Menschen eine fast prophetische Rolle für Umweltaktivisten sehen, die sich für den Klimaschutz stark machen. Radikalisierend wirken dabei Endzeit-Ängste («Letzte Generation»). Daraus kann das Prinzip folgen, dass man die Sache selber in die Hand nehmen muss und andere zu Verhaltensänderungen zwingen darf (z. B. als Klima-Kleber). Diese Anflüge von Selbstjustiz werfen zahlreiche Fragen auf:
– Wer greift ein und stoppt andere, die genauso meinen, „die Sache“ – was immer dies auch sein mag – in die eigene Hand nehmen zu können?
– Wie erreicht man in einer Demokratie auf diese Art Mehrheiten? Oder verhärten sich so nicht eher die Fronten?
Letztlich wird es nur durch gemeinsame Anstrengung gelingen, Klimaschutz so nachhaltig, effektiv und effizient umzusetzen, wie dies angesichts der Dringlichkeit des Anliegens wichtig ist. Ein zugespitzter Messianismus wird hier wohl eher hinderlich sein.
Dies sind einige Beispiele für Politischen Messianismus. Sie sollen die Wahrnehmung für dieses schädliche Phänomen schärfen, damit ihm möglichst frühzeitig und möglichst deutlich ein Riegel geschoben werden kann.
Quellen:
Meet the Author | Alicja Curanović:
„Der russische Messianismus beinhaltet ein gegenhegemoniales Narrativ: Russland als Underdog“ (ZOiS – Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien)
Messianismus bei Umweltaktivisten – Klimakleber und Kleberklima (Cicero)
Verschiedene Tweets des Islamwissenschaftlers Reinhard Schulze zum Stichwort «Messianismus», insbesondere zum Nahen Osten und zu Russland: https://x.com/search?q=from%3ASchulzeRein%20Messianismus&src=typed_query