Polarisierung ist in den letzten zwei Jahrzehnten in der Politikwissenschaft und in den politischen Medien zu einem heiss diskutierten Thema geworden. Dabei ist umstritten geblieben, was sich mit dem Begriff genau verbindet. Die Vorstellung von «Polarisierung» umfasst meistens das Auftreten von Meinungsverschiedenheiten und ein Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb von bestimmten Gruppen.
Polarisierung ist allerdings nicht immer schädlich für die Demokratie, sondern in einem gewissen Mass sogar notwendig. Offensichtlich gehören scharfer Meinungsstreit, polemische Zuspitzung und harter Wettbewerb um politische Macht genauso zu einer Demokratie wie klare ideologische, personelle und parteipolitische Alternativen. Unterscheidbare politische Standpunkte und Programme sind essenziell für das Funktionieren einer Demokratie.
Polarisierung wird dann problematisch und destruktiv, wenn sie eine Spaltung in verfeindete Lager bewirkt – und diese Lager kaum noch zu Kompromissen fähig sind. Dazu kommt es unter anderem, wenn nicht nur Interessen und sachliche Überlegungen, sondern fundamentale Werte, Identitäten und Lebensweisen auf dem Spiel zu stehen scheinen.
Unterschiedliche Arten der Polarisierung
Es lassen sich unterschiedliche Arten der Polarisierung auseinanderhalten:
- Ideologische Polarisierung: Sie bezieht sich auf abweichende politische Ansichten (wie links oder rechts, Sozialismus oder Kapitalismus, Eingreifen des Staates oder freie Marktwirtschaft, Protektionismus oder Globalisierung, …). Dabei kann weiter unterschieden werden zwischen
- Polarisierung der Eliten – das heisst der Parteien und der Politikerinnen und Politiker;
- Massenpolarisierung – das heisst bezogen auf Bevölkerung und Wählerschaft.
- Gesellschaftliche Polarisierung: Sie beschreibt die Trennung zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, die sich weniger über ihre politischen Ansichten als über Identitätsmerkmale definieren (wie zum Beispiel Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Herkunft, Sprache, Religion, soziale Schicht, Zugehörigkeit zur Stadt- oder Landbevölkerung, freiwillige oder unfreiwillige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (etwa „Boomer“ oder „Generation Z“) oder Zivilisation („Westen“).
- Affektive Polarisierung: Sie bezieht sich auf den emotionalen Aspekt und beschreibt, dass wir positive Gefühle für die Gruppe hegen, die unsere Position vertritt, und negative Gefühle für die Gruppen, die anderer Ansicht sind.
Risiken für polarisierte Gesellschaften
Schädlich oder gar gefährlich für die Demokratie wirkt es sich aus, wenn die Polarisierung extrem wird. Oft spielt in solchen Fällen eine «Affektive Polarisierung“ eine wichtige Rolle. Bei diesem Phänomen entwickeln Menschen in politischen oder sozialen Kontexten eine starke emotionale Abneigung gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen. Das kann soweit gehen, um ein Beispiel aus den USA zu geben, dass ein Republikaner sich nicht vorstellen kann, jemanden zu heiraten, der den Demokraten angehört – und umgekehrt.
Solche polarisierenden Emotionen können eine verstärkte Identifikation mit der eigenen Gruppe bewirken und die Wahrnehmung von Informationen beeinflussen, sodass man stärker dazu neigt, die eigene Gruppe positiv und die andere negativ zu bewerten.
Das Resultat ist häufig eine tiefere Spaltung zwischen verschiedenen Gruppen, die durch Vorurteile, Misstrauen und Feindseligkeit geprägt ist. Diese emotional aufgeladene Polarisierung kann sich in verschiedenen Bereichen zeigen, darunter Politik, soziale Bewegungen und sogar in persönlichen Beziehungen.
Schädliche Auswirkungen starker Polarisierung auf Demokratien
Starke oder gar extreme Polarisierung kann sich an mehreren Punkten schädlich auf Demokratien auswirken. Hier dazu einige Beispiele:
- Reduzierte Zusammenarbeit: Polarisierung kann dazu führen, dass politische Parteien und ihre Anhänger weniger bereit sind, miteinander zu kooperieren oder Kompromisse zu schliessen. Dies kann die Fähigkeit von Regierungen (Exekutive) und Parlamenten (Legislativen) vermindern, effektive Politiken zu entwickeln und umzusetzen. So kann es zu einer Lähmung der politischen Institutionen kommen, da Diskussionen blockiert und Konsens, Kompromisse und sogar Mehrheiten verhindert werden.
- Erosion von Vertrauen: In polarisierten Gesellschaften kann das Vertrauen in das politische System, in Institutionen, Medien und andere Gruppen abnehmen. Menschen neigen in diesem politischen Setting dazu, Informationen nur aus Quellen zu akzeptieren, die ihre eigenen Überzeugungen bestätigen und zu ihrem «Stamm» passen (Tribalismus). Es kann eine sektiererische Dynamik entstehen, bei der die Gegnerschaft zu den „Anderen“ uns davon abhält, ihnen zuzuhören und uns ohne kritisches Hinterfragen alles akzeptieren lässt, was die „Unsrigen“ sagen oder tun. Und das selbst dann, wenn es sich dabei um antidemokratische oder illegale Positionen oder Verhaltensweisen handelt. Insgesamt kann dies zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führen.
- Anstieg von Extremismus: Polarisierung kann die Wahrscheinlichkeit vergrössern, dass extremistische Ansichten und Verhaltensweisen sich vermehren, da Menschen sich stärker mit ihrer eigenen Gruppe identifizieren und andere Gruppen als Bedrohung wahrnehmen.
- Wahlbeteiligung und politisches Engagement: In polarisierten Umgebungen kann die Wahlbeteiligung zwar entweder ansteigen, weil Menschen motivierter sind, ihre Stimme abzugeben, um ihre Seite zu unterstützen. Sie kann aber auch sinken, wenn Menschen den Eindruck haben, dass ihre Stimme in einem so gespaltenen System nicht zählt.
- Erhöhte gesellschaftliche Spannungen: Polarisierung kann zu gesteigerten Spannungen und Konflikten innerhalb der Gesellschaft führen, was den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität gefährden kann. Die Aggressivität zwischen politischen Gruppen kann erhöht werden.
- Polarisierte Medien: Politische und gesellschaftliche Polarisierung verstärkt tendenziell auch die Polarisierung in den Medien, wodurch wiederum Polarisierungstendenzen in der Bevölkerung gefördert werden. Es entsteht so eine sich selbst verstärkende Spirale.
Vorteile der Polarisierung
Es dürfte aus den bisherigen Ausführungen klar geworden sein, dass stark polarisierte Demokratien in ernsthafte Schwierigkeiten geraten können. Zu beachten ist jedoch, dass mässige Polarisierung auch manche Vorteile mit sich bringen kann. Hier dazu einige Beispiele:
- Eindeutige Positionierung: Polarisierung kann bewirken, dass politische Parteien und ihre Wähler klarere Positionen zu wichtigen Themen beziehen. Dies kann den Wählern helfen, die Unterschiede zwischen den Parteien besser zu verstehen und auf dieser Basis informierte Entscheidungen zu treffen.
- Mobilisierung der Wähler: Ein stark polarisiertes Umfeld kann die Wähler mobilisieren und sie dazu bewegen, sich aktiver an politischen Vorgängen zu beteiligen, sei es durch Wahlen, Proteste oder durch andere Formen des Engagements.
- Stärkung politischer Identität: Polarisierung kann die politische Identität der Menschen stärken, weil sie sich dadurch stärker mit ihrer Partei oder Ideologie identifizieren. Dies kann eine stärkere Gemeinschaftsbildung und Solidarität unter den Anhängern fördern. Die Entstehung solcher Gruppenidentitäten ist in einer demokratischen Gesellschaft also bis zu einem gewissen Mass durchaus gesund.
- Begünstigung von Debatten: Ein polarisiertes Umfeld kann tiefere und leidenschaftlichere Debatten über wichtige Themen fördern, was zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit politischen Fragen führen kann. Vollständiges Fehlen von Polarisierung würde dazu führen, dass kaum Debatten stattfinden und die gesellschaftliche Weiterentwicklung stagniert. Fortschritt verlangt notwendigerweise eine gewisse ideologische Polarisierung im Sinne politischer Meinungsunterschiede zwischen Befürwortern und Gegnern einer Veränderung.
Ein ausgewogenes Mass an Polarisierung ist deshalb entscheidend für das gute Funktionieren einer Demokratie.
Gegenmittel zur Vorbeugung und Überwindung von starker Polarisierung
Was können Individuen und demokratische Gesellschaften tun, um starken Polarisierungen entgegenzuwirken? Hier dazu einige zentrale Ansätze:
- Förderung des Dialogs: Offene und respektvolle Gespräche zwischen unterschiedlichen politischen Gruppen können mithelfen, Missverständnisse abzubauen und gemeinsame Werte zu identifizieren. Initiativen, die den interkulturellen Austausch anregen, können ebenfalls hilfreich sein.
- Bildung und Aufklärung: Bildung spielt eine zentrale Rolle, um kritisches Denken zu lernen und Menschen zu ermutigen, verschiedene Perspektiven zu betrachten. Programme, die Medienkompetenz vermitteln, können dazu beitragen, Fehlinformationen und extreme Ansichten zu vermindern.
- Moderation und Kompromiss: Politische Führer und Entscheidungsträger sollten aufgefordert und ermutigt werden, Kompromisse einzugehen und Lösungen zu finden, die für verschiedene Gruppen akzeptabel sind. Dies kann Spannungen abbauen und eine konstruktive Zusammenarbeit fördern.
- Gemeinsame Projekte: Initiativen, die Menschen aus verschiedenen politischen Lagern zusammenbringen, um an gemeinsamen Projekten oder Zielen zu arbeiten, können das Verständnis und die Zusammenarbeit stärken. Solche Projekte könnten sich beispielsweise auf die Lösung lokaler Gemeinschaftsprobleme konzentrieren. Vereine haben in letzter zeit stark an Bedeutung verloren. Das ist demokratiepolitisch bedauerlich. Die freiwillige Feuerwehr, der Turnverein, ein Gesangsverein – sie alle bieten Gelegenheit, dass Menschen aus unterschiedlichen Schichten und mit unterschiedlichen politischen Ansichten sich treffen und zusammenarbeiten. Der gesellschaftlich integrierende Effekt dieser Organisationen ist von hohem Wert.
- Soziale Medien und Kommunikationsstrategien: Die Art und Weise, wie Informationen in sozialen Medien verbreitet werden, kann Polarisierung stark anfachen. Solche Plattformen sollten deshalb verantwortungsbewusst mit der Verbreitung von Inhalten umgehen und Algorithmen einsetzen, die Vielfalt und ausgewogene Perspektiven fördern. Weil dies den wirtschaftlichen Interessen der Plattformen zuwiderläuft, braucht es hier staatliche Regulierung.
- Wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit: Ungleichheit und soziale Spannungen können Polarisierung fördern. Eine Politik, die auf soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Chancengleichheit abzielt, kann dazu beitragen, die Ursachen von Polarisierung zu reduzieren.
- Konsens- und Kooperationspolitik stärken: Bürgerinnen und Bürger sollten nur Personen in politische Ämter wählen, die den Punkten 1 – 6 nachleben und sich an grundlegende demokratische Normen halten. Siehe dazu: Normen, demokratische
Quellen:
Polarisierte Gesellschaft – ein Grund zur Sorge? (Science.lu)
«Das gespaltene Land – Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von 1950 bis heute», von Manfred Berg, Klett-Cotta 2024 (Seite 17).
Unterstützt durch ECOSIA AI
Siehe auch:
► Beitrag zum Zusammenhang von Polarisierung und Verschwörungstheorien.
► Extreme Polarisierung tritt oft zusammen mit Tribalismus auf («Stammesdenken»):
Tribalismus, digitaler: Problematik des Stammesdenken