Demokratien verfügen über geschriebene Regeln (Verfassungen) und Schiedsrichter (Gerichte). Demokratien funktionieren aber am besten – und überleben am längsten – in Ländern, in denen die Verfassung durch demokratische Normen unterfüttert ist. Regeln oder Normen wirken als ‘weiche’ Leitplanken für die Demokratie. Sie verhindern, dass die alltägliche politische Auseinandersetzung in einen Konflikt ausartet, in dem keine Rücksicht auf Verluste genommen wird. Zwei grundlegende demokratische Normen sind gegenseitige Achtung und institutionelle Zurückhaltung.
Normen sind nicht nur persönliche Einstellungen. Sie sind nicht nur im guten Charakter von politischen Führern verankert. Es handelt sich um Verhaltensregeln, die in der jeweiligen Gemeinschaft oder Gesellschaft allgemein bekannt sind und von ihren Mitgliedern akzeptiert, respektiert und durchgesetzt werden. Diese ungeschriebenen Normen sind oft schwer zu greifen, vor allem, wenn sie reibungslos funktionieren. Dies kann zur Folge haben, dass sie als überflüssig betrachtet werden. Das sind sie jedoch ganz und gar nicht. Wie bei Luft oder sauberem Wasser merkt man sofort, wie wichtig Normen sind, sobald sie fehlen. Sind die demokratischen Normen stark, rufen Verstösse gegen sie Äusserungen der Missbilligung hervor. Das kann von Kopfschütteln oder Spott bis hin zu öffentlicher Kritik oder gar völliger Ächtung gehen. Sind demokratische Normen stark, müssen Politiker, die gegen sie verstossen, einen Preis dafür bezahlen.
Zwei wichtige Normen: gegenseitige Achtung und institutionelle Zurückhaltung
Zwei Normen sind für das gute Funktionieren einer Demokratie besonders essentiell:
- Gegenseitige Achtung.
- Institutionelle Zurückhaltung.
Zu Norm 1: Gegenseitige Achtung
Dazu schreiben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch «Wie Demokratien sterben»:
„Gegenseitige Achtung bedeutet, dass man Rivalen, solange sie nach den Verfassungsregeln spielen, das gleiche Recht zubilligt zu existieren, um die Macht zu kämpfen und zu regieren, wie einem selbst. Auch wenn man mit politischen Gegnern oder Andersdenkenden nicht übereinstimmt oder ihnen gegenüber sogar tiefe Abneigung empfindet, akzeptiert man doch ihr Daseinsrecht….Man mag ihre Vorstellungen für töricht oder verschroben halten, aber man sieht in ihnen weder eine existentielle Bedrohung, noch betrachtet man sie als Verräter, Staatsfeinde oder ähnlich inakzeptable Menschen.“ (Seite 120/121)
Zu Norm 2: Institutionelle Zurückhaltung
Wer institutionelle Zurückhaltung übt unterlässt Handlungen, die zwar dem Buchstaben der Gesetze genügen, ihren Geist aber offensichtlich verletzen. Ist die Norm der institutionellen Zurückhaltung stark, nutzen Politiker, auch wenn es ihnen von Rechts wegen zustehen würde, ihre institutionellen Vorrechte nicht in vollem Umfang aus, weil dies das vorhandene demokratische System gefährden könnte.
Der Gegensatz von institutioneller Zurückhaltung besteht in der schrankenlosen Ausnutzung institutioneller Vorrechte. In diesem Fall hält man sich zwar an die Regeln und Normen, reizt sie jedoch bis an die Grenzen aus und kämpft verbissen darum, einmal Gewonnenes nicht wieder zu verlieren. Es handelt sich um eine Art Schlacht mit institutionellen Mitteln und mit dem Ziel, den Gegner auszuschalten – ohne sich darum zu kümmern, ob man damit das demokratische Spiel beendet. Auch die Justiz kann für diesen Kampf mit harten Bandagen instrumentalisiert werden. Verfassung und Gesetze werden dann zum Beispiel durch parteiische Richter bis zum Äussersten zum Vorteil einer bestimmten Partei ausgelegt.
Gegenseitige Achtung und institutionelle Zurückhaltung hängen eng zusammen
Die beiden Normen der «Gegenseitigen Achtung» und der «Institutionellen Zurückhaltung» sind eng miteinander verknüpft und verstärken sich manchmal sogar. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schreiben dazu:
«Politiker neigen eher zur Zurückhaltung, wenn sie andere als legitime Rivalen akzeptieren, und Politiker, die ihre Rivalen nicht als Staatsfeinde betrachten, sind im Allgemeinen weniger versucht, zu Normbrüchen zu greifen, um sie von der Macht fernzuhalten.» (Seite 132)
Im Gegensatz dazu kann der Zerfall der gegenseitigen Achtung voreinander Politiker dazu veranlassen, ihre Macht so weitgehend wie möglich zu nutzen. Betrachten Parteien einander als Todfeinde, steigern sich die Einsätze im politischen Wettstreit erheblich. Politische Niederlagen sind dann nicht mehr länger ein alltäglicher, akzeptierter Teil des demokratischen Prozesses. Sie werden vielmehr als Katastrophen empfunden. Sind die befürchteten Kosten einer Niederlage hoch genug, kommen Politiker in Versuchung, die Zurückhaltung aufzugeben und mit harten Bandagen zu kämpfen. Dadurch kann die gegenseitige Achtung noch weiter sinken und die Überzeugung stärken, die jeweiligen Rivalen stellten eine gefährliche Bedrohung dar.
Das Resultat einer solchen Entwicklung ist eine Politik ohne Leitplanken, die der Politologe Eric Nelson als «Kreislauf immer gewagterer Verfassungsauslegungen» beschreibt.
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt weisen darauf hin, dass einigen der tragischsten Zusammenbrüche von Demokratien in der Geschichte eine Entwertung grundlegender Normen vorausging. Es ist sehr wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger demokratische Normen verteidigen und nur Politikerinnen und Politiker wählen, die sich an diese Leitplanken halten.
Quelle:
„Wie Demokratien sterben“, von Steven Levitzky und Daniel Ziblatt, Pantheon Verlag 2019. Siehe dazu auch: Buchbesprechung und Zitate.
Siehe auch:
Debattenkultur in der Demokratie
Demokratie – ihre typischen Merkmale
Rechtsstaat – seine typischen Merkmale
Populismus schadet der Demokratie – wie macht er das?