Der Agitator ist ein Feind der Demokratie. Doch wer ist ein Agitator, wie erkennt man ihn (oder sie). Wie geht er vor?
Eindrücklich beschrieben hat die Figur des Agitators der deutsche Literatursoziologe Leo Löwenthal (1900 – 1993). Er analysierte in seiner Studie «Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismu»s (1949) die rhetorischen und psychologischen Mechanismen in den Reden faschistischer Agitatoren.
Leo Löwenthal schrieb:
«Soziale Malaise kann mit einer Hautkrankheit verglichen werden. Der daran leidende Patient hat das instinktive Bedürfnis, sich zu kratzen. Folgt er dem Rat eines erfahrenen Arztes, wird er diesem Bedürfnis nicht nachgeben und statt dessen versuchen, die Ursache des Juckreizes durch ein Heilmittel zu beseitigen. Gibt er jedoch seinem instinktiven Kratzbedürfnis nach, wird der Juckreiz sich nur steigern. Dieser irrationale Akt der Selbstverstümmelung wird ihm zwar eine gewisse Erleichterung verschaffen, verstärkt aber gleichzeitig sein Bedürfnis zu kratzen und verhindert eine erfolgreiche Heilung seiner Krankheit. Der Agitator rät zum Kratzen.» (Seite 31)
Malaise sei die Folge der für die moderne Existenz charakteristischen und permanenten Unsicherheit, schreibt Leo Löwenthal schon im Jahr 1949 (!) – eine Diagnose, die heute wohl noch mindestens so bedenkenswert ist – wenn nicht aktueller.
Der Agitator werde von dieser Malaise angezogen wie die Fliege vom Misthaufen. Im Unterschied zu vielen Liberalen vertusche und verleugne er sie nicht. Er finde keinen Trost in der Illusion, dass dies die beste aller möglichen Welten sei. Im Gegenteil, er wate in dieser Malaise, er geniesse sie und trachte danach, sie zu vertiefen bis zu einem Punkt, wo sie sich zu einer paranoiden Beziehung zur Aussenwelt verdichtet. Und wenn sein Publikum diesen Punkt erreicht habe, sei es reif für seine Manipulation.
Der Agitator missbraucht und verstärkt Unbehagen
Leo Löwenthal führt weiter aus:
«Dieser ganze Missbrauch des Unbehagens ist nur möglich, solange die Menschen sich nicht über seine Wurzeln in der modernen Gesellschaft klar werden. Statt sie als Symptome eines üblen Zustands aufzudecken, behandelt der Agitator die stereotypen Äusserungen des Unbehagens als ein legitimes Bedürfnis. Das bringt ihn in die vorteilhafte Situation, die falschen Ansichten seiner Zuhörer nicht korrigieren zu müssen, sich vielmehr von deren “natürlicher” Strömung tragen lassen zu können.» (Seite 34)
Quelle:
«Falsche Propheten- Studien zum Autoritarismus», von Leo Löwenthal, Suhrkamp Taschenbuch 2017.
Anmerkungen:
► Wie stoppt man einen Agitator? Wichtig ist zweifellos, die Vorgehensweise von Agitatoren immer wieder zu demaskieren, und zwar auch präventiv, also bevor ein konkreter Agitator auftritt. Das ist auch eine Aufgabe politischer Bildung.
► Nicht-agitatorische politische Parteien müssen eine gute Politik machen, Probleme benennen und tragfähige Lösungen anbieten. Das nimmt dem Agitator Wind aus den Segeln.
► Agitatoren werden massiv gefördert durch die Algorithmen der Social-Media-Plattformen, weil sie Empörung, Wut, Angst und weitere negative Emotionen mit einer grösseren Reichweite belohnen. Polarisierende und emotionalisierende Beiträge werden von Nutzerinnen und Nutzer mehr geteilt, gelikt und kommentiert. Die Algorithmen interpretieren diese verstärkte Interaktion als ein Zeichen für eine grössere Relevanz dieser Beiträge, vor allem auch, weil dadurch Nutzerinnen und Nutzer länger auf der Plattform bleiben. Aus diesen kommerziellen Gründen verschaffen die Algorithmen polarisierenden und emotionalisierenden Beiträgen eine grössere Reichweite. Sie werden also einer grösseren Zahl von Menschen gezeigt. Sachliche, korrekte, differenzierte Beiträge werden dagegen quasi mit kleiner Reichweite bestraft. Die Algorithmen der Social-Media-Plattformen spielen jedem Agitator in die Hände. Das muss sich ändern – und zwar rasch, wenn Demokratie, Aufklärung und Wissenschaft stabil bleiben sollen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es dafür zu spät sein könnte, aber wir müssten trotzdem alles dagegen tun. Dazu hat Markus Tiedemann ein sehr lesenswertes Buch geschrieben: «Post-Aufklärungs-Gesellschaft – Was wir verlieren und was uns bevorsteht».
►Donald Trump und Elon Musk sind gegenwärtig sehr illustrative Beispiele für Agitatoren. Ein Agitator kann aber selbstverständlich auch politisch links positioniert sein.
Siehe auch:
Feinde der Demokratie – zwölf Punkte und eine Aufforderung
Demagogie & Verschwörungstheorien