Die Opfer-Haltung ist Gift für Demokratien. Das gilt auf individueller wie auch auf staatlicher Ebene.
Wer in einer Opfer-Haltung steckt fühlt sich nicht verantwortlich, weil immer andere schuld sind: Die Politiker, die Parteien, die «Mehrheitsgesellschaft», die linken «Gutmenschen», die Ausländer, die kapitalistischen Konzerne.
Der Philosoph Roland Kipke schreibt in seinem Buch «Jeder zählt» zur Opfer-Haltung:
«Wer sich in erster Linie als Opfer sieht, kriegt den Hintern nicht hoch. Demokratie jedoch lebt vom Hintern-Hochkriegen. Davon, selbst aktiv zu werden und für die Sache einzustehen, die einem wichtig ist, im Kleinen wie im Grossen. Ein Volk von Menschen mit Opfer-Haltung bringt keine dauerhafte Demokratie zustande.
Natürlich gibt es echte Opfer. Opfer von Unrecht oder schlechten Startchancen. Einzelne und auch Gruppen. Doch so hart das Schicksal auch zugeschlagen hat, es entschuldigt nicht alles. Vor allem enthebt es einen nicht der Verantwortung, das Beste aus diesem Schicksal zu machen. So wie der Einzelne für sein Leben verantwortlich ist, ist es auch ein Volk für sein Gedeihen. Die Form, die diese Verantwortung annimmt, ist die Demokratie. Die Demokratie ist eine Verantwortungsgemeinschaft.»
Quelle:
«Jeder zählt – Was Demokratie ist und was sie sein soll», von Roland Kipke, Metzler Verlag 2018, Seite 170.
Wenn Staaten Opfer-Haltung bewirtschaften
Opfer-Haltung ist nicht nur ein individuelles Problem. Insbesondere in autokratischen Staaten – aber manchmal auch in Demokratien oder Scheindemokratien – ist es üblich, mit Hilfe der Opfer-Haltung Verantwortung abzuschieben.
In Russland ist die Haltung, sich als Opfer des Westens zu fühlen, sehr verbreitet. Dafür gibt es natürlich geschichtliche Gründe – zum Beispiel den Einmarsch Napoleons (1812) und der Angriff der deutschen Wehrmacht (1941). Opfer-Haltungen werden daraus, wenn alle Schwierigkeiten dem bösen «Westen» in die Schuhe geschoben werden und damit auch das Regime sich stabilisieren kann. Siehe dazu:
Goldene Milliarde – antiwestliche Verschwörungstheorie in Russland
Verschwörungstheorien von westlicher Einkreisung haben in Russland Tradition
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán zelebriert Ungarn als Opfer der EU – was ziemlich absurd ist angesichts der Anhängigkeit seines Landes von Zahlungen der EU.
Aber auch US-Präsident Donald Trump bewirtschaftet eine Opfer-Haltung, wenn er immer wieder davon schwadroniert, dass die ganze Welt die Vereinigten Staaten abzockt.
Populisten jeder Couleur sind Meister darin, Opfer-Haltungen und Feindbilder zu bewirtschaften und daraus politischen Nutzen zu ziehen. Islamisten zelebrieren die Opfer-Haltung, indem sie allen Muslimen einzureden versuchen, sie seien Opfer der Ungläubigen – und damit Anhänger einfangen und radikalisieren. Für Aktivisten im Bereich der linken Identitätspolitik gehört das Pflegen von Opfer-Haltungen ebenfalls zur «Kernkompetenz». Dazu hat der Psychologe Varnan Chandreswaran ein lesenswertes Buch geschrieben:
«Gefangen in der Opferrolle – Warum Wokeness scheitert», von Varnan Chandreswaran, Eulogia Verlag 2024. siehe dazu auch: Buchbesprechung und Zitate.