«Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft», so lautet der Untertitel des sehr lesenswerten Buches von Cinzia Sciuto. Die italienische Philosophin zeigt eindrücklich die grosse Bedeutung der Laizität für multikulturelle, demokratische Gesellschaften. Sie geht auch differenziert auf zentrale Fragen ein wie den Umgang mit dem Islam als neuer Religion in Europa.
Der Verlag schreibt zum Buch von Cinzia Sciuto:
«Die Gesellschaften Europas, in denen wir heute leben, werden zunehmend komplex. Ethnische, religiöse und kulturelle Konflikte durchziehen sie und machen eine Suche nach neuen Entwürfen des Zusammenlebens erforderlich. Will eine Gesellschaft kulturelle Vielfalt und Persönlichkeitsrechte unter einen Hut bringen, das zeigt Cinzia Sciuto in ihrem Buch, muss sie zwischen Staat und Religion unterscheiden. Sie muss laizistisch sein. Laizität ermöglicht den diversen Spielarten von Religionen und Weltsichten erst, in einer pluralistischen Gesellschaft nebeneinander zu existieren. Sie garantiert auf der einen Seite die Religionsfreiheit, gleichzeitig legt sie jedoch Prinzipien fest, von denen nicht abgewichen werden darf, auch nicht im Namen irgendeiner Gottheit. Laizität ist die vorpolitische Voraussetzung für ein ziviles Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft, in dem die Freiheiten und Menschenrechte von allen respektiert werden.
Dieser politische Essay in der Art wie die von Carolin Emcke oder Hamed Abdel-Samad zeigt die problematische Kehrseite des Multikulturalismus. Wo Anerkennung und Respekt für die Identitäten der diversen ethnischen, religiösen und kulturellen Bestandteile einer Gesellschaft eingefordert werden, läuft man Gefahr zu vergessen, dass jeder Einzelne Träger seiner subjektiven Rechte ist und keine Gruppenzugehörigkeit diese ihm streitig machen kann. Cinzia Sciuto stellt die Prioritäten wieder auf die Füße: Das Individuum ist Träger von Identitäten und Zugehörigkeiten, anstatt dass es von seiner Zugehörigkeit definiert wird.»
Zitate aus dem Buch von Cinzia Sciuto:
Cinzia Sciuto stellt in ihrem Buch klar, dass Laizität nicht als Gegensatz zu Religiosität aufzufassen sei und «laizistisch» nicht als Gegensatz zu «gläubig»:
«Der Widersacher des Laizisten ist nicht der Gläubige, sondern der Fundamentalist, und die Trennlinie zwischen diesen beiden Fronten ist nicht der Glaube, sondern der Anspruch, dass das bürgerliche Zusammenleben gemäss den Prinzipien des (eignen) Glaubens organisiert sein müsse und dass die Rechte des Einzelnen den Dogmen des (eigenen) Glaubens untergeordnet werden müssten. Anders gesagt, die Zäsur verläuft zwischen denen, die die (eigene) Religion über jedes andere normative System stellen und verlangen, dass sie…als absolutes Recht gelte…und denen, die hingegen innerhalb der Volksgemeinschaft religiöse Normen den Prinzipien der Verfassung und den Regeln unterordnen, die sich eine demokratische Gesellschaft gibt….
Anders gefasst, für den Fundamentalisten ist, ob er gläubig ist oder nicht, die (eigene) Religion die Grundnorm der bürgerlichen Ordnung, während für den Laizisten, ob er gläubig ist oder nicht, die Grundnorm der bürgerlichen Ordnung einen konstitutionellen Pakt darstellt, der die Rechte und Freiheit aller sichert.»
Dass gläubige und ungläubige Laizisten existieren und gläubige sowie ungläubige Fundamentalisten, ist eine sehr interessante und produktive Perspektive auf diese Thematik.
Cinzia Sciuto thematisiert Identitätspolitik in ihrem Buch nicht explizit. Sie kritisiert aber eine Reihe von Punkten, die identitätspolitisch «bewirtschaftet» werden.
So zum Beispiel hier:
«Zu glauben, dass die ‘anderen’ Kulturen heilige Objekte seien, die Schutz verdienten, ist Ausdruck moralischen Hochmuts (und schlussendlich rassistisch), weil das diesen ‘anderen’ die Fähigkeit und das Recht abstreitet, die eigene kulturelle Tradition zu hinterfragen. Es ist kein Zufall, dass die schwerwiegendste Konsequenz eines multikulturalistischen Ansatzes darin besteht, Diversität innerhalb der Gemeinschaften von Minderheiten zu leugnen. Das verleitet dazu, alle andersdenkenden Bewegungen zu ignorieren – oder gar als Produkte einer erzwungenen ‘Verwestlichung’ abzutun -, die in ihren Ländern für die Menschenrechte streiten.» (Seite 139)
Und hier:
«Eine progressive Politik sollte nicht vorrangig zum Ziel haben, Minderheiten als solche zu schützen, sondern vielmehr den Einzelnen kulturelle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Hilfsmittel bereitstellen, um sich von der eigenen Herkunftsgemeinschaft frei machen zu können, falls nötig sogar von der eigenen Familie. Für das einzelne Individuum ist die ‘Macht’, die die eigene Gemeinschaft über es hat – sosehr sie ‘Minderheit’ sein mag -, dennoch immer ein Übergriff des Stärkeren auf den Schwächeren.» (Seite 140/141)
Quelle:
«Die Fallen des Multikulturalismus – Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft», von Cinzia Sciuto, Rotpunktverlag 2020.
Fazit: Das Buch von Cinzia Sciuto bietet fundierte Orientierung in herausfordernden Themen wie Multikulturalismus, Laizität, Menschenrechte, Identitätspolitik. Die Autorin packt auch heisse Eisen an wie den Umgang mit dem Islam in Europa, zum Beispiel bei der «Kopftuchfrage» oder der Gefahr von Paralleljustiz (Scharia-Tribunale).
Siehe auch:
► Hier ein Vortrag von Cinzia Sciuto:
Die Fallen des Multikulturalismus – Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft.
Vortrag von Cinzia Sciuto: