Identitätspolitik trennt die Gesellschaft radikal in eine als unterdrückerisch gebrandmarkte Mehrheitsgesellschaft – und eine Reihe von unterdrückten Minderheiten, die untereinander wiederum in einer Opferhierarchie stehen. Diese krasse Gut-Böse-Trennung erinnert an religiöse Strömungen wie den Manichäismus oder die Gnosis. Sie fördert eine Fragmentierung der Gesellschaft und schwächt damit den Zusammenhalt.
Die Folgen dieser Fragmentierung beschreibt die Politologin und Soziologin Ulrike Ackermann in ihrem Buch «Das Schweigen der Mitte – Wege aus der Polarisierungsfalle»:
«Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen und mit ihrer teils rigiden, fundamentalistischen Identitätspolitik für eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft sorgen. Zuweilen hat man den Eindruck, die Gesellschaft würde auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden Communities, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Ideologisch flankiert ist er von einem antiliberalen Kommunitarismus und Multikulturalismus, der besonders in der akademischen Linken und Kulturlinken, aber inzwischen auch in den kosmopolitischen Eliten anzutreffen ist. Auf der Rechten wird hingegen ein Kollektivismus favorisiert, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht. Kollektivistisch sind beide und entfernen sich damit gleichermassen von den universalen Prinzipien der Aufklärung. Deren Anliegen war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaften aus dieser zivilisatorischen Leistung war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – also keineswegs die soziale Ergebnisgleichheit, wie sie von der Linken und neuen Linken für diverse Opfergruppen eingefordert wird.» (Seite 195/196)
Quelle:
«Das Schweigen der Mitte – Wege aus der Polarisierungsfalle», von Ulrike Ackermann, wbg Theiss Verlag 2020. Buchbeschreibung und Zitate.
Fragmentierung unterminiert demokratische Diskurse und fördert Polarisierung
Die Fragmentierung der Gesellschaft durch Identitätspolitik führt zur Unterteilung der Gesellschaft in immer kleinere homogene Gruppen. Und weil Identitätspolitik darüber hinaus die Überzeugung verbreitet, dass diese isolierten Gruppen/Minderheiten sich gegenseitig nicht verstehen können (siehe: Standpunkttheorie), wird der demokratische Diskurs massiv erschwert. Schlussendlich wird damit eine toxische Polarisierung gefördert, die in ein Stammesdenken (Tribalismus) führen kann.
Auf diese Weise schwächt identitätspolitische Fragmentierung Demokratien. Das ist sehr problematisch, weil Demokratien schon seit einiger Zeit von aussen und von innen unter Druck stehen.
Um Demokratien resilient zu halten ist es deshalb wichtig, jeder weitergehenden Fragmentierung Grenzen zu setzen. Ein Beitrag dazu wäre es, wieder verstärkt auf Universalismus zu setzen statt auf Identitätspolitik.
Siehe dazu auch:
Multikulturalismus – ein ambivalentes Konzept für Demokratien
Identitätspolitik versus Universalismus
Manichäismus & Verschwörungstheorien
Polarisierung & Verschwörungstheorien
Tribalismus, digitaler: Problematik des Stammesdenken