Multikulturalismus ist ein Konzept, das die Koexistenz unterschiedlicher kultureller Gruppen innerhalb einer Gesellschaft fördert. Im Kern geht es dabei um die Frage, wie man die Herausforderungen, die mit der kulturellen und religiösen Vielfalt in heutigen pluralistischen Gesellschaften verbunden sind, verstehen und darauf reagieren kann.
Die folgenden drei Grundsätze spielen im Multikulturalismus eine tragende Rolle:
- Kulturelle Vielfalt: Anerkennung und Wertschätzung der unterschiedlichen Kulturen innerhalb einer Gesellschaft.
- Gleichheit: Alle Kulturen haben das Recht, ihre Identität zu bewahren und auszudrücken.
- Integration: Förderung des Zusammenlebens verschiedener Kulturen, ohne dass eine Kultur die andere dominiert.
Dabei zeigt sich der Multikulturalismus ambivalent – mit einer Reihe von Stärken und Schwächen. Die italienische Philosophin Cinzia Sciuto spricht im Buch «Die Fallen des Multikulturalismus» von einer «Täuschung des Multikulturalismus».
«Multikulturalismus» sei ein trügerisches Wort, weil es viel weitreichendere Implikationen hat, als man auf den ersten Blick vermutet:
«Oberflächlich betrachtet verweist Multikulturalismus auf die farbenfrohe Begegnung der unterschiedlichsten Traditionen, Sitten und Bräuche, auf kulinarische, modische und musikalische Vielfalt. Man denkt an Kulturfestivals, mediterrane Volkstänze in Norwegen, Kebabläden in London, an arabische Klänge in europäischen Metropolen, daran, dass Pizza längst zu einem internationalen Gericht geworden ist und dennoch untrennbar mit Italien verbunden bleibt, an gegenseitige Befruchtungen in bildender Kunst und Literatur.»
Soweit sei alles in Ordnung, schreibt Cinzia Sciuto, und weist auf Gefahren des Multikulturalismus hin:
«Problematisch wird es, wenn aus der Tatsache einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft , also aus einer Vielfalt von Sprachen, Bräuchen, Sitten, Traditionen, Religionen und Ethnien innerhalb ein und derselben Gesellschaft, das Prinzip abgeleitet wird, dass die Mitglieder der politischen Gemeinschaft je nach Zugehörigkeit zu einer der vielen ethnisch-kulturell-religiösen ‘Gemeinschaften’ unterschiedlich behandelt werden müssten und dass ‘Minderheitenkulturen’ als solche zu schützen seien, und zwar genau so, wie sie sind oder man annimmt, dass sie seien. Anders gesagt, es wird gefährlich, wenn man aus einer Pluralität von Bräuchen, Sitten, Traditionen, Sprachen und Glaubensrichtungen eine Pluralität von Rechten ableitet, da das unausweichlich zu einer Pluralität von Rechtssystemen führt. Dieser Ansatz hat in vielen europäischen Ländern dem Integrationsprozess von Einwanderern schwer geschadet.» (Seite 123/124)
Chancen und Risiken des Multikulturalismus
Die Ambivalenz des Multikulturalismus zeigt sich in den Chancen und Risiken, die mit ihm verbunden sind. Dazu im Folgenden ein paar Beispiele:
Chancen:
- Kreativität und Innovation: Kulturelle Vielfalt kann neue Ideen und Perspektiven begründen.
- Toleranz und Verständnis: Multikulturalismus kann das Verständnis zwischen verschiedenen Gruppen fördern und Vorurteile abbauen.
- Wirtschaftliche Vorteile: Vielfältige Kulturen können zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, indem sie unterschiedliche Fähigkeiten und Talente einbringen.
Risiken:
- Konflikte: Unterschiedliche Werte und Normen der diversen Kulturen können zu Spannungen und Konflikten führen.
- Identitätsprobleme: Individuen können Schwierigkeiten haben, ihre Identität in einer multikulturellen Gesellschaft zu finden und zu definieren.
- Segregation: In einigen Fällen kann Multikulturalismus zur Bildung von isolierten Gemeinschaften führen, die wenig miteinander interagieren. Dadurch können Parallelgesellschaften entstehen.
Zum Spannungsfeld zwischen Multikulturalismus und Liberalismus
Multikulturalismus und Liberalismus widersprechen sich an wesentlichen Punkten. Der Multikulturalismus verlangt den rechtlichen Schutz von Kulturen und kollektiven Identitäten, das zentrale normative Anliegen des Liberalismus ist hingegen die Stärkung der individuellen Freiheit und Autonomie.
Der Politologe Francis Fukuyama schreibt dazu in seinem Buch «Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet»:
«Der Begriff Multikulturalismus, der ursprünglich bloss dazu diente, vielfältige Gesellschaften zu beschreiben, ist zu einem Etikett für ein politisches Programm geworden, das jede separate Kultur und jede gelebte Erfahrung gleichermassen schätzt und zuweilen besondere Aufmerksamkeit auf diejenige lenkt, die in der Vergangenheit unsichtbar gewesen oder unterbewertet worden waren. Während der klassische Liberalismus beabsichtigt hatte, die Autonomie gleichwertiger Individuen zu schützen, förderte die neue Ideologie des Multikulturalismus den einheitlichen Respekt vor Kulturen, selbst wenn diese die Autonomie der zu ihnen gehörenden Individuen einschränkten.»
Aus diesem Grund fällt es Multikulturalisten oftmals schwer, Menschenrechtsverletzungen wie Genitalverstümmelung oder Burka-Zwang zu kritisieren.
Zum Essentialismus multikulturalistischer Konzepte
Essentialismus ist die Ansicht, dass bestimmte Eigenschaften oder Merkmale einer Gruppe von Menschen als unveränderlich oder grundlegend angesehen werden, wodurch die Vielfalt innerhalb dieser Gruppe ignoriert wird. Wenn eine Minderheit als homogene Gruppe betrachtet wird, wird oft übersehen, dass es innerhalb dieser Gruppe eine Vielzahl von unterschiedlichen Erfahrungen, Identitäten und Perspektiven gibt. Dies kann zu Stereotypen und Vorurteilen führen, da die komplexe Realität der individuellen Mitglieder nicht ausreichend gewürdigt wird.
Der Multikulturalismus neigt dazu, Minderheiten als einheitliche Monolithen aufzufassen. Er masst sich an, die «authentische Kultur» und die authentischen Vertreter dieser Kultur erkennen zu können. Konsequent zu Ende gedacht führt der Multikulturalismus dazu, ein präzises Inventar von Merkmalen zu erstellen und zu meinen, dass die Mitglieder einer bestimmten Gruppe dieser Liste zwingend entsprechen müssen, um als «legitime» Vertreter dieser Kultur gelten zu können.
Dieser essentialistisch eingefärbte Multikulturalismus unterscheidet sich nicht wesentlich von der Einstellung, es gebe biologische und genetische Unterschiede
– die es unmöglich machen, dass jemand an einer anderen Kultur als der eigenen teilhat;
– die verhindern, dass jemand Elemente der eigenen Kultur ablehnt, die er oder sie als unpassend empfindet;
– die verhindern, dass man seine eigene, ganz persönliche Identität auf vollkommen autonome Art und Weise formt.
Ein solcher Multikulturalismus ist inhärent reaktionär und rassistisch. Cinzia Sciuto schreibt dazu:
«Zu glauben, dass die ‘anderen’ Kulturen heilige Objekte seien, die Schutz verdienten, ist Ausdruck moralischen Hochmuts (und schlussendlich rassistisch), weil das diesen ‘anderen’ die Fähigkeit und das Recht abstreitet, die eigene kulturelle Tradition zu hinterfragen. Es ist kein Zufall, dass die schwerwiegendste Konsequenz eines multikulturalistischen Ansatz darin besteht, Diversität innerhalb der Gemeinschaften von Minderheiten zu leugnen. Das verleitet dazu, alle andersdenkenden Bewegungen zu ignorieren – oder gar als Produkte einer erzwungenen ‘Verwestlichung’ abzutun -, die in ihren Ländern für die Menschenrechte streiten.» (Seite 139)
Konkret bedeutet das beispielsweise, dass muslimische Kritikerinnen und Kritiker des Islam von multikulturalistischen Aktivisten der «Transphobie» bezichtigt werden. Oder dass die Gendertheorie-Ikone Judith Butler in der Burka ein Bollwerk islamischer Kultur gegen die westliche Moderne sieht und Frauen, die sich gegen den Burka-Zwang wehren, unterstellt, sie würden sich westlichen Machtansprüchen unterwerfen.
Eine häufige und entscheidende Folge des Multikulturalismus ist deshalb, dass die Forderungen der Dissidenten innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften ignoriert oder diffamiert werden. Cinzia Sciuto schreibt zu diesem Punkt:
«Diese Dissidenten wollen eben nicht als Mitglieder der entsprechenden Gemeinschaft anerkannt werden – was bedeuten würde, auf eine mutmassliche kollektive Identität reduziert zu werden -, sondern als Personen. Dissidenten in Minderheitengemeinschaften sind in Gefahr, doppelt diskriminiert zu werden: Ihnen wird Verrat der ‘eigenen’ Gemeinschaft vorgeworfen, und sie werden nicht anerkannt oder, noch schlimmer, seitens der übrigen Bevölkerung als unauthentische Vertreter einer bestimmten Gemeinschaft betrachtet. Das wiederum entspricht der uneingeschränkten Übernahme des fundamentalistischen Narrativs, dem zufolge Dissidenten als Verräter zu betrachten seinen.» (Seite 122)
Zum Zusammenhang zwischen Multikulturalismus und Identitätspolitik
Es gibt einige Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen Multikulturalismus und Identitätspolitik.
Beide Konzepte befassen sich mit der Vielfalt und den unterschiedlichen Identitäten innerhalb einer Gesellschaft. Hier einige der gemeinsamen Themenfelder:
- Anerkennung von Vielfalt: Multikulturalismus betont die Wichtigkeit der Anerkennung und Wertschätzung kultureller Unterschiede, während Identitätspolitik sich oft auf die politischen und sozialen Anliegen spezifischer Gruppen konzentriert, die aufgrund ihrer kulturellen, ethnischen oder sozialen Identität marginalisiert sind.
- Repräsentation: Beide Konzepte zielen darauf ab, die Stimmen und Perspektiven von unterrepräsentierten Gruppen in den politischen und sozialen Diskurs einzubringen. Multikulturalismus fördert die Idee, dass verschiedene Kulturen gleichwertig sind, während Identitätspolitik oft spezifische Forderungen für die Rechte und die Sichtbarkeit bestimmter Gruppen formuliert.
- Soziale Gerechtigkeit: Sowohl Multikulturalismus als auch Identitätspolitik können als Reaktionen auf Ungerechtigkeiten und Diskriminierung betrachtet werden. Sie setzen sich für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit ein, indem sie auf die Bedürfnisse und Herausforderungen unterschiedlicher Gemeinschaften aufmerksam machen.
Das sind überwiegend grundsätzlich positive Anliegen, doch gibt es sowohl bei der Identitätspolitik als auch beim Multikulturalismus Kritik bezogen auf die spezifische Herangehensweise an diese Problemfelder. Kritiker des Multikulturalismus argumentieren manchmal, dass er zu einer Fragmentierung der Gesellschaft führen kann, während Kritiker der Identitätspolitik befürchten, dass sie durch die Überbetonung von Unterschieden eine Spaltung der Gesellschaft bewirkt.
Insgesamt sind Multikulturalismus und Identitätspolitik also eng miteinander verbundene Konzepte. Sie teilen positive Anliegen miteinander, bringen aber auch ähnliche Risiken für Demokratie und Gesellschaft mit sich. Beide stehen unverdientermassen im Ruf, progressive Politik zu sein. Cinzia Sciuto schreibt dazu:
«Eine progressive Politik sollte nicht vorrangig zum Ziel haben, Minderheiten als solche zu schützen, sondern vielmehr den Einzelnen kulturelle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Hilfsmittel bereitstellen, um sich von der eigenen Herkunftsgemeinschaft frei machen zu können, falls nötig sogar von der eigenen Familie. Für das einzelne Individuum ist die ‘Macht’, die die eigene Gemeinschaft über es hat – sosehr sie ‘Minderheit’ sein mag -, dennoch immer ein Übergriff des Stärkeren auf den Schwächeren.» (Seite 140/141)
Multikulturalismus und Identitätspolitik zeigen bei genauerer Betrachtung sogar mehr oder weniger ausgeprägte kollektivistische, regressive und sogar rassistische Züge.
Quellen:
«Identität – Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet», von Francis Fukuyama, Hoffmann und Campe Verlag 2019. Buchbeschreibung und Zitate hier.
«Die Fallen des Multikulturalismus – Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft», von Cinzia Sciuto, Rotpunktverlag 2020. Buchbeschreibung und Zitate.
Unterstützt durch ECOSIA AI.
Siehe ausserdem:
► Zum Thema Identitätspolitik:
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
► Multikulturalismus braucht Laizismus als Grundlage:
► Hier ein Vortrag von Cinzia Sciuto:
Die Fallen des Multikulturalismus – Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft.