Wokeness ist inzwischen ein Kampfbegriff geworden, mit dem Rechtspopulisten und Rechtsextreme linke Identitätspolitik angreifen. Aber Linke überlassen den Rechten dieses Terrain auch, weil sie inzwischen selbst zu grossen Teilen auf Identitätspolitik gebürstet sind. Und die meisten Medien spielen das Spiel mit. Deshalb ist es durchaus bemerkenswert, wenn Jens Jessen in der «Zeit» zum Schluss kommt, Wokeness sei das grösste Geschenk der Linke an die Rechten. Er schreibt:
«Die Linke profitiert ganz arglos davon, mit ihrem Dogmatismus den Gegner zu stärken. Aus den nordamerikanischen Universitäten, die jetzt von Trump drangsaliert werden, ist noch kein Zweifel laut geworden, ob sie mit ihren identitätspolitischen Exzessen und Gender-Lehrstühlen nicht auch den Aufstieg ihres Peinigers gefördert haben könnten. Erst recht zeigen die italienischen Linksparteien nicht den Hauch einer Einsicht, dass sie ihre Dogmatismen bis zu jener Zersplitterung getrieben haben, die den Wahlerfolg von Giorgia Meloni erst möglich gemacht hat. Sie alle sind in dem Bewusstsein ihrer moralischen Überlegenheit so gefangen, dass sie nicht einmal ahnen, wie abschreckend eine solche Moral auch wirken kann – selbst auf den unschuldigsten Bürger.»
Trump hat sehr klar davon profitiert, dass die Demokraten in den USA hochgradig und über viele Jahre dem Kult von Wokeness / Identitätspolitik verfallen waren und sind.
Siehe dazu:
Mark Lilla: Identitätspolitik verhalf Trump zur Wahl
Transgender-Debatte der Demokraten kam Trump zugute
Fördert Wokeness der Linken die Rechtspopulisten?
Abschied von der Wokeness?
Es gibt eine ganze Reihe von Hinweisen dafür, dass die Linke mit ihrem Hang zur Wokeness den Rechten in die Hände spielt. Aber es ist fraglich, ob es der Linke zeitnah gelingt, aus diesem Kult auszusteigen und sich wieder vermehrt ihrem Kerngeschäft zu widmen. Jens Jessen jedenfalls fordert:
«Im Grunde heißt das: Der Kampf gegen rechts müsste zugleich als Kampf gegen links geführt werden – um es als Paradox zu formulieren. Besser wäre, die Linke würde einsehen, dass sie sich verrannt hat, und sich aus einer Weltanschauungssekte wieder zurück in eine Partei (oder mehrere) für die arbeitende Bevölkerung verwandeln. Etwas mehr Marxismus als Poststrukturalismus, mehr Rosa Luxemburg als Judith Butler wäre ein großer Gewinn – und würde den Rechten die Möglichkeit nehmen, auf dem Klavier der Bevormundungsängste zu spielen und so zu tun, als seien sie die Anwälte des kleinen Mannes.»
Doch wie bringt man das den Linken bei? Rechtspopulisten zu wählen jedenfalls ist keine gute Alternative.
Quelle der Zitate:
«Politische Extreme: Selbst schuld?» (Zeit)
Ohne Paywall hier.
Anmerkungen:
Die Linke ist von ihren Ursprüngen her dem Universalismus verpflichtet und hat eine wichtige Funktion im Parteienspektrum. Wenn Teile der Linken inzwischen identitätspolitisch eingefärbt sind, entfernen sie sich von diesem Erbe. Universalismus und Identitätspolitik stehen in weiten Bereich in einem Gegensatz. Deshalb ist es wichtig, einen reflektierten Universalismus zu verteidigen, auch bei den Linken.
Siehe dazu: Identitätspolitik versus Universalismus
Ausserdem:
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat