Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Publizist Mark Lilla hat schon vor acht Jahren mit der These Aufsehen erregt, dass die Identitätspolitik der amerikanischen Linken für Trumps Wahl verantwortlich sei. Im Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen» wird Mark Lilla gefragt, ob er das heute immer noch so sehe:
Antwort Mark Lilla:
«Ja. Denn die Frage, die ich damals stellte, ist noch immer relevant: Wie können Demokraten, die sich um das Gemeinwohl kümmern, die Macht zurückgewinnen? Und mein Argument war und ist, dass die Identitätspolitik dabei im Weg steht, weil sie die Partei daran hindert, mit der Arbeiterklasse der weißen Wähler zu interagieren. Es war bei dieser Wahl vielleicht sogar noch klarer als bei der letzten, dass die Identitätspolitik Trump wirklich geholfen hat, weil die konservative Presse immer wieder auf diese Themen eingehämmert hat: auf Geschlechterfragen, auf Pronomenbildung, auf biologisch männliche Schüler, die sich als trans identifizieren und Mädchensport treiben, und auf das heikle Problem des Geschlechtswandels von Kindern.
Die Mehrheit der Bevölkerung steht bei diesen Themen hinter Trump. Und wenn das der Fall ist, dann sollte das für eine politische Partei, die gewählt werden will, ein Signal dafür sein, besser den Mund zu halten. Denn man kann nichts tun, um diesen Menschen zu helfen, wenn man nicht gewählt wird. Ich warte immer noch auf eine Wahl, bei der ihre Niederlage die Demokratische Partei erkennen lässt, dass ihre erste und einzige Verpflichtung darin besteht, Wahlen zu gewinnen. Ob sie das jemals tun wird, weiß ich nicht.»
Quelle:
Lilla : Unser Land zurückholen! (FAZ)
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Mark Lilla zur Identitätspolitik
Es lohnt sich, einen Beitrag wieder zur Hand zu nehmen, den Mark Lilla im November 2017 zum Thema in der NZZ publiziert hat. Darin beschreibt der Politikwissenschaftler, wie die Identitätspolitik der amerikanischen Linken dem Rechtspopulismus in die Hände spielt und ihm zu Wahlerfolgen verhilft. Er schildert unter anderem, wie in Schulen und Universitäten identitätspolitische Themen derart viel Gewicht bekommen, dass viele glauben, «dass sich der politische Diskurs in der Identitätsfrage erschöpfe; dementsprechend haben sie zu Grundthemen wie der Klassenfrage, Krieg, Wirtschaft und Gemeinwohl erschütternd wenig zu sagen…….
Beim Eintritt ins College werden die Jugendlichen zudem ermutigt, ihre Selbstfixierung weiterhin zu pflegen – durch Studentengruppen ebenso wie durch Fakultätsmitglieder und Administratoren, deren einzige Aufgabe es ist, sich mit «Diversitätsfragen» zu befassen und diesen noch mehr Gewicht zu verleihen. Fox News und andere konservative Medien machen sich ein Vergnügen daraus, den daraus resultierenden «Campus-Irrsinn» mit Hohn zu übergiessen, und in aller Regel haben sie ganz recht damit. Das wiederum spielt den populistischen Demagogen in die Hände, die Bildung in den Augen derjenigen delegitimieren wollen, die selbst nie einen Fuss auf einen Campus gesetzt haben.»
Mark Lilla bringt diese Verirrung so auf den Punkt:
«Unsere Kinder werden dazu ermutigt, sich über ihre individuelle Identität auszulassen, noch bevor sie überhaupt eine haben.»
Es ist sehr bedauerlich, dass die amerikanische Linke die Warnungen von Mark Lilla ignoriert hat. Auch in Europa wird der Politikwissenschaftler von Linken gerne als «rechts» diffamiert, damit man sich mit seinen Argumenten nicht ernsthaft auseinandersetzen muss. Trump und andere Rechtspopulisten und Rechtsextremisten profitieren von dieser Ignoranz.
Quelle:
Identitätspolitik ist keine Politik (NZZ)
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Mark Lilla über Identität, Trump und Politik | Gespräch | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur:
«Die Identitätspolitik ist teilweise verantwortlich für dreissig Jahre Politik der Demokraten, die nicht auf die Nation und unsere gemeinsamen Projekte fokussierte, um zum Beispiel den Reagenismus zu bekämpfen, sondern auf die Forderungen, Sorgen und Empfindlichkeiten spezieller Bevölkerungsgruppen. Deren Empfindlichkeiten und Sorgen sind real, aber da die Demokraten auf kleine Gruppen, anstatt auf die Nation als Ganze fokussierten, und die Nation nicht als Schicksalsgemeinschaft verstanden, verloren sie die Wichtigkeit institutioneller Politik in den USA aus den Augen, zugunsten einer Politik sozialer Bewegungen.
Siehe auch:
Identitätspolitik als Gift für die Demokratie
Identitätspolitik und Postfaktualismus greifen Basis der Wissenschaft an
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Identitätspolitik unterminiert Wissenschaft
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik – die Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien