Öffentlichkeit ist immer dann vorhanden, wenn Kommunikation für zwei Adressaten zugleich stattfindet – ein Gegenüber und ein Publikum. Sie ermöglicht dabei die Beobachtung von Kommunikation durch das Publikum. Dadurch werden Themen, Argumente und Meinungen dem Nachdenken und der Diskussion zugänglich gemacht.
Der Philosoph Bernd Stegemann schreibt dazu in seinem Buch «Die Öffentlichkeit und ihre Feinde»:
«Ohne Öffentlichkeit sind keine demokratischen Veränderungen möglich. Es braucht den vorpolitischen, öffentlichen Raum, in dem Werte und Meinungen durch wechselseitige Begegnungen gebildet werden, um zu demokratischen Entscheidungen zu kommen.» (Seite 9)
Entscheidend sei das Sprechen in der Öffentlichkeit, schreibt der Philosoph Roland Kipke in seinem Buch «Jeder zählt»:
«Das muss nicht immer die ganz grosse Bühne sein, aber ein Ort, der für alle zugänglich ist, wo alle zuhören oder lesen können, eine Zeitschrift, eine Fernsehsendung, ein Blog, Facebook oder ein Ort im wörtlichen Sinn: ein öffentlicher Platz. In jedem Fall ein gemeinsamer Raum. Warum? Weil die Dinge, über die gesprochen wird, uns alle angehen. Weil nur das, was öffentlich besprochen wird, für alle zugänglich ist. Weil nur so jeder mitreden kann. Weil wir nur das öffentlich Gesagte nachvollziehen, prüfen, beurteilen und anfechten können. Demokratie findet in der Öffentlichkeit statt, lebt von der Öffentlichkeit, ist Öffentlichkeit.» (Seite 40)
Demokratie braucht Öffentlichkeit – Autokratie scheut sie
Manchmal sehe es so aus, als sei die Öffentlichkeit eine Schwäche der Demokratie, schreibt Roland Kipke:
«Alles wird ausgeleuchtet, peinliche Patzer sind für alle sichtbar, Schwächen liegen wie im Schaufenster offen zu Tage. Dreistigkeiten, Betrügereien, Skandale – sie alle werden früher oder später enthüllt und öffentlich verhandelt. Doch was wie Schwäche aussieht, ist Stärke. Denn nur was öffentlich bekannt ist, lässt sich rügen. Nur erkennbare Fehler lassen sich verbessern. Nur in der Öffentlichkeit können wir leeres Gefasel demaskieren, Lügen entlarven und nackten Kaisern ihre Nacktheit vorhalten. Nur hier können wir Rechenschaft verlangen und Konsequenzen einfordern. Nicht dass Fehler gemacht werden, ist typisch für die Demokratie, sondern dass sie bekannt werden.» (Seite 40)
Autoritäre Regime dagegen kennen das Licht der Öffentlichkeit nicht, höchstens das grelle Geflacker der inszenierten Politshows. In Autokratien gibt es nicht weniger Skandale, sondern mehr, doch bleiben sie verborgen. Fehlentscheidungen, Lügen, Korruption, Inkompetenz, Leichen – sie bleiben unter dem Teppich des Schweigens verborgen. Demokratien sind deshalb eher in der Lage, Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Probleme der Öffentlichkeit in der Gegenwart
Die konstruktive demokratische Öffentlichkeit ist heute aus verschiedenen Richtungen bedroht. Hier dazu ein paar wichtige Punkte:
► Starke Polarisierung unterteilt die Öffentlichkeit in zwei Räume, die wenig oder gar keinen Austausch mehr miteinander haben. Das fördert die Entfremdung der beiden Lager. Der demokratische Diskurs wird erschwert, weil oft schon die Problemdiagnose weit auseinanderklafft. Der Weg zu Kompromissen und gemeinsamen Problemlösungen wird dadurch steiniger.
► Fragmentierung: Die Gesellschaft zerfällt zunehmend in viele kleine Teilbereiche. Natürlich hat es auch Vorteile, wenn es im Gegensatz zu früher nicht mehr nur 1 oder 2 Fernsehsender gibt, sondern 50, plus eine unendliche Zahl von YouTube-Kanälen und TikTok-Influencern als weitere Informationsquellen. Die Öffentlichkeit zerbröselt dadurch aber in zahlreiche «Bubbles», die mit mehr oder weniger unterschiedlichen Infos «gefüttert» werden. Eine gemeinsame, geteilte Wirklichkeit, über die wir uns unterhalten können, ist damit infrage gestellt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine politische Partei im Wahlkampf unterschiedliche Wählergruppen via Social-Media-Plattformen mit sich widersprechenden Botschaften bedient, die Widersprüche aber niemand mitbekommt, so dass sie nicht aufgegriffen, diskutiert und kritisiert werden können.
► Einfluss von Bots: Auf Social-Media-Plattformen mischen sich immer stärker künstlich generierte Stimmen in den Debattenraum ein. Sie sind in der Lage, das Meinungsbild zu verzerren. Die massenhafte Beteiligung von Bots am «Diskurs» fördert die Unsicherheit, ob die vielen Botschaften überhaupt noch eine menschliche Ursache haben.
► Zunehmende Gereiztheit: Die Öffentlichkeit hat sich in vielen Bereichen zu einem überhitzten Ort entwickelt. Dazu tragen Social-Media-Plattformen entscheidend bei, indem sie algorithmisch bedingt empörende, emotionalisierende Posts wesentlich stärker verbreiten als sachliche, ausgewogene Beiträge.
► Komplexitätsmüdigkeit: Öffentliche Kommunikation macht Dinge komplizierter, als sie den Beteiligten anfangs erscheint. Die einzelne Meinung wird mit entgegengesetzten Ansichten konfrontiert, was ihren Anspruch auf absolute Gültigkeit relativiert. Es tauchen im Zeitverlauf Widersprüche und Ambivalenzen auf. Zudem ist die moderne Kommunikation geprägt von einer starken Entgrenzung. Wir bekommen heute täglich in Echtzeit einen kontinuierlichen Strom an News aus aller Welt mit, während frühere Generationen langsamer und spärlicher mit Ereignissen und Ansichten konfrontiert wurden. Diese Entwicklungen führen bei vielen Menschen zu Überforderung. Die darauffolgende Komplexitätsmüdigkeit bewirkt oft einen Rückzug aus der Öffentlichkeit und damit aus dem demokratischen Diskurs.
► Kommerzialisierung des demokratischen Diskurses: In vielen Ländern der Welt findet der demokratische Diskurs inzwischen zum grossen Teil auf Social-Media-Plattformen statt, die komplett kommerzialisiert sind. Wer an diesem Diskurs teilnehmen will, muss Daten an Firmen wie Facebook abliefern, die damit personalisierte Werbung verkaufen. Diese Kommerzialisierung der politischen Öffentlichkeit ist problematisch, auch weil diese Plattformen nur ihren ökonomischen Erfolg anstreben. Sie sind nicht dazu konstruiert, konstruktive politische Gespräche zu fördern. Die politische Öffentlichkeit sollte jedoch von Kommerzialisierung frei sein.
► Desinformation: Die demokratische Öffentlichkeit wird angegriffen durch Desinformation in verschiedenen Formen. Steve Bannon – Rechtsextremist und ehemaliger Strategieberater von Trump – empfiehlt und praktiziert den Grundsatz, die «Zone mit Scheisse zu fluten». Also soviel Lügen, Bullshit und Schrott in die Welt zu blasen, bis die Menschen die Orientierung verlieren und nicht mehr wissen, was wahr und was falsch ist. Die Kreml-Propaganda verfolgt den gleichen Stil. Nachdem zum Beispiel russische Agenten 2018 Sergej Skripal und seine Tochter in Grossbritannien vergiftet hatten, fluteten russische Propagandamedien die Öffentlichkeit mit verschiedensten und auch widersprüchlichen Varianten zum Hintergrund des Attentats. Siehe dazu:
Epistemische Hilflosigkeit und moderne Propaganda
Bernd Stegemann schreibt:
«Die russische Regierung verkündet von den Zeiten der Sowjetunion bis heute, dass Objektivität ein ‘uns aufgezwungener Mythos’ ist, weswegen er bekämpft werden muss. Das effektivste Mittel hierfür…..besteht in einer planvoll hergestellten Desinformation. Ihr Ziel besteht weniger darin, dass die falschen Informationen geglaubt werden, sondern es besteht in der Zerrüttung des Vertrauens in die Öffentlichkeit selbst.» (Seite 175)
Endziel dieser Desinformation ist es, dass die Menschen desinformiert sind, aufgeben und nicht mehr versuchen herauszufinden, was wahr ist und was falsch. Das führt in den politischen Zynismus.
Dann hat Propaganda freie Bahn.
Siehe dazu: Zynismus, politischer (Politikverdrossenheit)
Fazit:
Wenn wir die Demokratie resilienter machen wollen gegen ihre Feinde, dann besteht ein wichtiger Schritt darin, der beschriebenen Öffentlichkeit Sorge zu tragen. Dazu gibt es keine einfachen Lösungen und der Weg in diese Richtung ist komplex.
Bernd Stegemann skizziert als Ideal eine «fragende Öffentlichkeit»:
«Statt die offenen Fragen in alarmierende Panikmeldungen umzuwandeln, wäre ein kollektiv fragendes und sich wunderndes Bewusstsein der Lage ungleich angemessener. Eine fragende Öffentlichkeit würde zu einem Ort, an dem sich nicht Feinde bekämpfen, sondern sie wäre eine Problemgemeinschaft, die anfängt zu begreifen, dass es keine einfachen und vor allem keine individuellen Rettungswege aus dem Verhängnis gibt. Die Chance besteht darin, dass immer mehr Menschen anfangen, sich für diese ungelösten Probleme zu interessieren. Sie werden nach Änderungsmöglichkeiten im Kleinen wie im Grossen suchen.»
(Seiten 282/283)
Quellen:
«Jeder zählt – Was Demokratie ist und was sie sein soll», von Roland Kipke, Metzler Verlag 2018.
«Die Öffentlichkeit und ihre Feinde», von Bernd Stegemann, Klett-Cotta Verlag 2021.
Siehe ausserdem:
Debattenkultur in der Demokratie
Bürgertugenden – weshalb sie für Demokratien wichtig sind
Bullshit unterminiert die Demokratie
Agitator, der – als Feind der Demokratie
Demokratie – ihre typischen Merkmale
Demagogie als Gefahr für die Demokratie
Desinformation als Gefahr für die Demokratie
Polarisierung – ihre Auswirkung auf Demokratien