Russland ist ein Vielvölkerstaat, der zahlreiche Ethnien unterjocht hat und bis heute ausbeutet. Und das Kreml-Regime unternimmt grosse Anstrengungen, unabhängig gewordene Staaten der ehemaligen Sowjetunion wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Das russische Kolonialreich soll wieder in alter Grösse erstehen.
In der österreichischen Tageszeitung «Der Standard» hat der Historiker Michael Ignatieff einen Beitrag publiziert zum Umgang Russlands mit seinem Kolonialreich.
Zitat:
«Wenn die Ukrainer für uns kämpfen, dann deshalb, weil sie die letzte Schlacht gegen den europäischen Imperialismus schlagen. Jede andere imperiale Macht in Europa hat ihre Kolonien aufgegeben und begonnen, sich mit dem Schaden auseinanderzusetzen, den ihr Kolonialreich ihren kolonialen Untertanen und dem eigenen Volk zugefügt hat. Denn mit dem Kolonialreich kam die Erfindung der Rassenhierarchie und der rassisch begründeten Herrschaft, Gewalt und Grausamkeit.»
Russland hat sich nie kritisch mit seinem Kolonialreich auseinandergesetzt
Russland sei die einzige europäische Gesellschaft, die sich nie ehrlich mit ihrer imperialen Vergangenheit auseinandergesetzt habe, schreibt Michael Ignatieff:
«Indem es sich weigerte, sich dem Erbe Stalins zu stellen und sich mit Stalins Verbrechen in der Ukraine, den übrigen „unterjochten Nationen“ und in Russland selbst auseinanderzusetzen, versperrte sich Russland jeden Weg in seine eigene demokratische Zukunft. Die Russen haben sich damit der ewigen Tyrannei eines Mannes ausgeliefert, der ihre Söhne nur zu Kanonenfutter machen kann.»
Dies sei die tödliche Pathologie, die die Ukraine in unserem Namen bekämpfe. Und wenn die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sagen, dass sie Europa betreten wollen, «dann meinen sie damit, dass sie das Kolonialreich aus ihrer Seele reißen und als freie Menschen leben wollen…»
Stellen sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit, schaffen sie die Möglichkeit für eine Politik, die auf der Realität und nicht auf Fantasiebildern basiert. In Grossbritannien kapierte die Labour-Regierung im Jahr 1945, dass sie nur durch einen Verzicht auf Indien und Palästina die Demokratie im eigenen Land aufbauen konnte. Und Deutschland musste bedingungslos besiegt werden, bevor es seine Fantasien von einem Kolonialreich in Europa und Asien aufgab. In Russland hat eine solche Auseinandersetzung nie stattgefunden.
Quelle:
MICHAEL IGNATIEFF:
Die Schlacht der Ukraine gegen den Imperialismus (Der Standard)
Anmerkungen:
An westlichen Universitäten hat sich eine Ideologie etabliert, die sich unter dem Begriff «Postkolonialismus» mit den Kolonialverbrechen der europäischen Staaten und mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart befasst. Dieses Anliegen ist grundsätzlich begrüssenswert, kommt aber in einer atemberaubenden Einseitigkeit daher. Kolonialismus wird dabei entgegen aller historischen Tatsachen praktisch ausschliesslich als Verbrechen der weissen «Rasse» beschrieben. Ein russisches Kolonialreich stösst bei diesen «Forschern» kaum auf Interesse, was den ideologischen Charakter dieser Strömung zeigt. Ausserdem befeuert der Postkolonialismus durch sein manichäisches Denken (Gut-Böse) einen akademischen Antisemitismus, der sich gerade an vielen westlichen Universitäten zeigt. Siehe dazu:
Wie Postkolonialismus Antisemitismus fördert und Terror legitimiert
Postkolonialismus als Quelle von Judenhass
Zur Entwicklung in Russland und im Ukraine-Krieg:
Putinismus – Ideologie und Verschwörungstheorien
In der Ukraine steht die Zukunft Europas auf dem Spiel