Europa steht angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und den imperialen Ambitionen des Kreml-Regimes vor einer prägnanten Wiederaufrüstung. Besser als massive Aufrüstung wäre ziviler Widerstand, schreibt der Philosoph Olaf L. Müller im «Spiegel». Er bezeichnet sich als relativen Pazifisten, der Rüstung im Gegensatz zu absoluten Pazifisten nicht fundamental ablehnt. Ziviler Widerstand soll aber wo immer möglich vorgezogen werden.
Der absolute Pazifismus wisse der russischen Bedrohung nichts entgegenzusetzen, schreibt Müller, und stellt die Frage:
«Haben allein deshalb diejenigen recht, die Deutschland und die Nato mit immer aggressiveren Waffen hochrüsten wollen? Nein. Eine bedenkenlose Aufrüstung mit neuen Mittelstreckenraketen, ja sogar mit Atomwaffen, könnte extrem gefährlich werden. Was aber wäre der richtige Weg? Ich schlage einen Pazifismus vor, der nicht absolut ist, sondern relativ.»
Der relative Pazifist ziehe es vor, in Grautönen zu denken:
«Je kriegerischer eine vorgeschlagene Handlung, desto zweifelhafter ist sie moralisch; erst einmal. Er vertritt keine reine Moral-Lehre, vielmehr nutzt er seine pazifistische Weltanschauung wie einen Suchscheinwerfer. Während die Nato-Führer martialische Pläne schmieden und in den Rüstungswettlauf eintreten, sucht der relative Pazifist nach friedlicheren, defensiveren, weniger aggressiven Alternativen. Dazu muss er die ungemütliche Wirklichkeit, in der wir uns befinden, unvoreingenommen in den Blick nehmen; und er braucht eine gehörige Portion an Fantasie.»
Olaf L. Müller ist zugute zu halten, dass er «die ungemütliche Wirklichkeit» einer militärischen Bedrohung nicht einfach ignoriert. Er macht sich Gedanken, wie eine defensiv ausgerichtete Wiederaufrüstung aussehen müsste und er warnt vor allem vor atomarer Wiederaufrüstung. Auf die Erpressbarkeit der europäischen Demokratien angesichts eines unsicher gewordenen US-Atomschirms geht er aber nicht ein.
Ziviler Widerstand kann Rüstung ergänzen, aber nicht ersetzen
Olaf L. Müller empfiehlt, dass ziviler Widerstand die militärische Abschreckung ergänzen soll. Das ist als Absicht zwar löblich. Müller bleibt bei der konkreten Umsetzung aber nebulös und scheint doch etwas gar naiv unterwegs zu sein, wenn er als Beispiel aufführt, dass ein Flashmob dem Angreifer «singend und Suppe servierend» entgegenläuft. Müller verweist auf eine Publikation der Politikwissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria Stephanaus dem Jahr 2011, nach der ziviler Widerstand in zahlreichen Fällen sogar besser wirkt als bewaffneter, und zwar obwohl er in Friedenszeiten nicht vorab eingeübt und perfektioniert werden konnte. Da müsste man wohl die einzelnen Beispiele genauer anschauen und es dürfte für den Erfolg oder Misserfolg von zivilem Widerstand entscheidend sein, wie skrupellos der Angreifer ist.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben nach dem Grossangriff im Jahr 2022 mit mutigem zivilem Widerstand reagiert. Das hat die russischen Truppen nicht von Folter, Vergewaltigung, Massaker und der Verschleppung von Kindern in grosser Zahl abgehalten. Ein Interview der TAZ mit der Friedensforscherin Véronique Dudouet vom 19. 4. 2022 – also wenige Wochen nach dem russischen Grossangriff – zeigt die Naivität dieser Vorstellungen.
Es soll nicht bestritten werden, dass ziviler Widerstand auch Erfolg haben kann. Er braucht aber viel Mut, kann durch ein skrupelloses Besatzungsregime mit Folter, Gefängnis oder Ermordung niedergeschlagen werden und fordert deshalb oft einen hohen Preis.
Beispiele für erfolgreichen und erfolglosen zivilen Widerstand
Es gibt zahlreiche Beispiele für gescheiterten zivilen Widerstand:
► In Russland wurde die Zivilgesellschaft schlichtweg plattgemacht.
► Beim Tian’anmen-Massaker im Jahr 1989 schlug das chinesische Militär Proteste im Zentrum von Peking brutal nieder.
► In Georgien protestiert die Opposition seit vielen Monaten friedlich und bisher erfolglos gegen gefälschte Wahlen.
► Die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968.
► In Venezuela hat ziviler Widerstand bislang nicht zu einem Regimewechsel geführt, obwohl es bedeutende Proteste gegen das Regime von Nicolás Maduro gab.
Erfolgreich war ziviler Widerstand beispielsweise bei der friedlichen Revolution in der DDR im Jahr 1989, bei der gewaltfreien Bewegung für die Unabhängigkeit Indiens unter der Führung von Mahatma Gandhi und bei der Absetzung von Slobodan Milošević als Präsident Serbiens nach friedlichen Protesten im Jahr 2000.
Bei diesen Beispielen für erfolgreichen oder gescheiterten zivilen Widerstand geht es allerdings oft um Aufstände im Innern gegen ein autoritäres Regime.
Eindeutig ziviler Widerstand gegen einen Besatzer zeigte sich im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel in Dänemark und in den Niederlanden. Widerstandsgruppen verbreiteten beispielsweise illegale Zeitungen und versteckten Jüdinnen und Juden. Solche Aktionen waren ein wichtiger Teil des Kampfes gegen die Besatzer und viele Beteilige zahlten dafür mit ihrem Leben. Sie sind weit von Vorstellungen entfernt, singend und Suppe ausschenkend auf die Angreifer zuzugehen.
Letztlich wurden Dänemark und die Niederlande von den Alliierten militärisch befreit. Auch mutiger ziviler Widerstand stösst bei einem skrupellosen Aggressor wie den Nazis, dem chinesischen und dem russischen Regime an Grenzen. Abschreckung durch Wiederaufrüstung ist für Europa deshalb das dringende Gebot der Stunde. Ziviler Widerstand sollte aber als Ergänzung eingeübt werden.
Quellen:
Pazifismus und Verteidigung: Massive Aufrüstung? Besser wäre ziviler Widerstand (Spiegel)
Ohne Paywall hier.
Friedensforscherin über den Ukrainekrieg: „Ziviler Widerstand ist effektiver“ (TAZ)
Siehe auch:
Buchtipp: «Die Rückkehr des Krieges» von Franz-Stefan Gady
In der Ukraine steht die Zukunft Europas auf dem Spiel
Wie steht’s um die Wehrhaftigkeit westlicher Demokratien?