Der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel sagt in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger, die Schweiz solle ihre Trittbrettfahrerei in Sicherheitsfragen aufgeben:
«Die Schweiz sollte aus meiner Sicht ihre Trittbrettfahrerei aufgeben. Das Land profitiert enorm von der Sicherheit, welche die Nachbarn und die Nato letztlich gratis zur Verfügung stellen. Die Schweizer Armee ist in einem traurigen Zustand. Das Land tut aber so, wie wenn die neuen Bedrohungen es gar nichts angingen. Dabei basiert ihr gesamtes Geschäftsmodell auf freiem Handel, Frieden und Sicherheit. Was ist die Schweiz dafür eigentlich zu leisten bereit? Wenn sie noch nicht einmal bereit ist, Deutschland die Weitergabe von Flugabwehrmunition an die Ukraine zu erlauben, die einst in der Schweiz hergestellt wurde?»
Vom Interviewer auf die Neutralität der Schweiz angesprochen, führt Sönke Neitzel weiter aus:
«Die Schweiz ist nicht wirklich neutral. Was Werte, Normen und die Demokratie angeht, weiss die Schweiz ganz genau, wo sie hingehört. Die Schweizer wollen auch nicht in einem Europa leben, das von Russland dominiert wird. Wenn wir als Europäer schwach sind, werden wir durch Russland erpressbar. Russische Panzer werden nicht in Bern stehen oder in Zürich, darum geht es nicht. Die Frage ist: Bleiben wir als liberale Demokratien und Wirtschaften unabhängig? Oder werden wir irgendwann Teil eines russisch beherrschten Eurasiens? Das kann auch nicht im Interesse der Schweiz sein.»
Schweden sei beinahe so lange neutral gewesen wie die Schweiz. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sei es nach 200 Jahren Neutralität der Nato beigetreten:
«Weil es sich bedroht fühlt – aber auch aus Solidarität.»
Die Schweiz müsse gar nicht Mitglied der Nato werden. Er verstehe ja, dass das ihrer politischen Kultur und Geschichte widerspreche. Aus seiner Sicht könnte die Schweiz jedoch deutlicher machen, dass sie Teil der westlichen Gemeinschaft ist und zu deren Sicherheit militärisch einen Beitrag leisten will.
Quelle:
«Die Schweiz tut so, wie wenn die neuen Bedrohungen sie gar nichts angingen» (Tages-Anzeiger, Abo)
Trittbrettfahrerei der Schweiz in Sicherheitsfragen hat Tradition
Die Schweiz profitiert schon seit vielen Jahren davon, dass sie von NATO-Staaten, dem neutralen Österreich und dem Kleinststaat Liechtenstein umgeben ist. Und dass Österreich wiederum durch NATO-Staaten von Russland getrennt ist. Das hat der Schweiz ermöglicht, die Rüstungsausgaben sehr tief zu halten. Und wie andere europäische Länder profitiert die Schweiz von der Präsenz amerikanischer Truppen in Europa und von der nuklearen Abschreckung durch den amerikanischen Atomschirm. Deshalb ist es nachvollziehbar, von Trittbrettfahrerei zu sprechen, auch wenn manche Schweizer sich das von einem Deutschen wie Sönke Neitzel nicht gerne sagen lassen.
Neutralität sollte nicht verabsolutiert werden
Ja, die Neutralität hat der Schweiz viel gebracht, aber sie eignet sich nicht zur Rechtfertigung der Trittbrettfahrerei. Die Neutralität verlangt im Wesentlichen, dass die Schweiz sich nicht militärisch an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten beteiligt. Sie darf weder mit Soldaten noch mit Waffen direkt auf Seiten eines Kriegsführenden teilnehmen und ihr Territorium keinem Kriegsführenden zur Verfügung stellen. Sie muss ihr Territorium verteidigen können. Dazu ist die Schweiz allerdings eigenständig nicht annähernd in der Lage. Deshalb ist eine Verabsolutierung der Neutralität nicht überzeugend. Die Schweiz muss Lösungen finden, um ihre Neutralität so zu modifizieren, damit sie mit sicherheitspolitischen und militärischen Kooperationen im Kriegsfall kompatibel ist. Gegen Angriffe aus der Luft durch Bomben, Raketen und Drohnen ist eine Zusammenarbeit mit umliegenden Staaten unumgänglich, wenn ein Schutz erreicht werden will. Auch bei der Abwehr von Cyber-Angriffen ist ein verstärktes Engagement der Schweiz und Kooperation notwendig.
Die Neutralität der Schweiz ist auch kein Hinderungsgrund, damit sich das Land gegen den Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine auf der Seite der überfallenen Nation stellt. Die Schweiz als Kleinstaat hat ein hochgradiges Interesse daran, dass völkerrechtliche Grenzen nicht gewaltsam verschoben und kleinere Länder nicht von grösseren gefressen werden. Die Schweiz als neutrales Land kann der Ukraine keine Rüstungsgüter zu ihrer Verteidigung liefern. Um ihre Position an der Seite des angegriffenen Landes klarzumachen, sollte die Schweiz ihre humanitäre und technische Unterstützung für die Ukraine aber deutlich verstärken. Europäische Demokratien werden von Autokratien wie Russland, China, Iran und Nordkorea angegriffen. Die Historikerin Anne Applebaum spricht in ihrem gleichnamigen Buch von der «Achse der Autokraten». Und es ist noch nicht klar, ob die USA sich dem Autokraten-Lager annähert, oder im Lage der Demokratien bleibt.
Die Schweiz sollte neutral bleiben und sich gleichzeitig eindeutig positionieren. Die Zeit der Trittbrettfahrerei ist vorbei.
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