Der frühere Bundespräsident in Deutschland, Joachim Gauck, hat in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» zu aktuellen Themen Stellung genommen. Er spricht darin über das Aufkommen des Rechtspopulismus, den Ukraine-Krieg und die Verteidigung der Demokratie. Joachim Gauck wird von den Interviewern aber auch gefragt:
«Auch auf der linken Seite nimmt der Unmut gegenüber der offiziellen Politik zu, was sich zuletzt anhand der Kritik an Israel gezeigt hat. Was halten Sie von Ideologien wie der radikalen ‘Wokeness’?»
Auf diese Frage gibt Joachim Gauck folgende Antwort:
„Das ist eine Form von Linkssein, die für mich überhaupt nicht progressiv ist, sondern ein postkolonial verzerrtes Denken widerspiegelt. Die Israelis werden als weisse Imperialisten verunglimpft, als Kolonisatoren, gegen die die Terrororganisation Hamas einen angeblich berechtigten Befreiungskampf führt. Doch bei aller Wut über die israelische Politik, die aus palästinensischer Sicht verständlich sein mag: Wie lassen sich so barbarische und monströse Morde wie am 7. Oktober 2023 an über 1000 jüdischen Zivilisten rechtfertigen?»
Was hier stattfinde, sei eine Täter-Opfer-Umkehr:
«Dass die Hamas die Vernichtung Israels vorsieht, wird ausgeblendet. Dass Israel als Reaktion auf mörderische Gewalt den Gazastreifen bombardiert, macht es zum alleinigen Täter. Mit Erschrecken mussten wir feststellen, dass diese Art des Denkens und der damit verbundene Antisemitismus auch in unserer Öffentlichkeit und auf unseren Strassen verbreitet wird. Ganz offensichtlich kommt die Bedrohung der liberalen Gesellschaft nicht nur aus einer Richtung.»
Quelle:
Joachim Gauck im Jahreswechsel-Gespräch: «Diese Jahrhundertkonfrontation dürfen wir nicht scheuen» (Tages-Anzeiger, Abo)
Ergänzungen zum Gespräch mit Joachim Gauck
☛ Es ist wohl so, dass Demokratien weltweit gesehen am stärksten bedroht sind durch Rechtspopulismus / Rechtsextremismus und autoritäre bis totalitäre Regime wie diejenigen in China und Russland. Es ist aber bemerkenswert, dass Joachim Gauck auch eine Bedrohung liberaler Gesellschaften von links sieht, weil diese Bedrohung von liberalen Kreisen oft übersehen wird. Bei der angesprochenen „Wokeness“ handelt es sich um eine Bewegung, die sich nicht einfach fassen lässt. Hier gibt’s dazu ein Buch und eine Buchbesprechung:
Buchtipp: «Die Wokeness-Illusion»
Anstelle von «Wokeness» ist oft von «Identitätspolitik» die Rede, ein Begriff, der jedoch ebenfalls nicht einfach zu beschreiben ist. Hier gibt’s dazu einführende Texte:
Identitätspolitik und Postfaktualismus
Was Identitätspolitik mit Religion verbindet
Identitätspolitik unterminiert Demokratie und Rechtsstaat
Identitätspolitik liegt falsch: Die Biologie kennt zwei Geschlechter, nicht mehr
☛ Joachim Gauck spricht von postkolonial verzerrtem Denken. Theorien des Postkolonialismus sind massgeblich beteiligt an den antisemitischen Ausschreitungen an Universitäten nach dem 7. Oktober. Siehe dazu:
Postkolonialismus auf Abwegen: Begeisterung für Osama Bin Laden
Hamas-Massaker und akademische Verblendung
☛ Wer ist Joachim Gauck?
Joachim Gauck stammt aus der DDR und wirkte dort als evangelischer Pfarrer in Rostock. Er engagierte sich in der Demokratiebewegung, die im Jahr 1989 zum Fall der Mauer führte. Nach der Wiedervereinigung leitete Joachim Gauck während zehn Jahren die Aufbereitung der Unterlagen des DDR-Überwachungsstaats. Im Jahr 2012 wurde er als erster Ostdeutscher und als erster Parteiloser zum Bundespräsidenten gewählt. Dieses hohe Amt gab er 2017 aus Altersgründen auf. In den politischen Debatten blieb er danach präsent wie kein anderer Alt-Bundespräsident vor ihm. Als Mensch, der Diktatur persönlich und hautnah erlebt hat, spricht Joachim Gauck mit grosser Glaubwürdigkeit, wenn es um die Verteidigung der Demokratie geht.